Die Sache mit der Angst vor dem Nicht-Erwachsenwerden.

13.09.2011 Allgemein, Leben
Foto via starry eyed.

Manchmal wache ich auf und weiß nicht wie alt ich bin. In meinen Papieren behaupten sie, ich sei dreiundzwanzigeinhalb. Ich bezweifle das. Und dann habe ich Angst, niemals erwachsen zu werden.

Ich könnte einer geregelten Arbeit nachgehen, um neun Uhr in der Früh ein paar Runden auf meinem Bürostuhl drehen, um gähnende acht Stunden später den Feierabend mit einer faden Weißweinschorle zu begießen. Mit Kollegen, die ebenso adrett gekleidet sind wie ich; mit meinem Chef zum Beispiel, der ständig jammert, weil er sich beim Hinsetzten immer wieder am Stock stößt, der ihm bis zum Rand im Arschloch steckt.

Ich habe keinen Chef, immer zu wenig Geld und einen Bürostuhl, der sich vor lauter Rost nicht mehr drehen will. Ich begieße meinen Feierabend oft gar nicht und wenn, dann mit Bier bis tief in die Nacht und Freunden, die Stöcke über dem Knie zerbrechen, sie in Seen werfen, oder Baumhäuser daraus bauen.
Ich könnte tanzen gehen zu sexy Musik, mit dem Hintern wackeln, bis der Raum in Flammen steht. Ich könnte hohe Schuhe dabei tragen und mit den Augen klimpern und mein Make Up nachziehen, sobald der erste Schweißtropfen mein Antlitz ruiniert. Ich könnte mich benehmen und aufhören, wenn’s am schönsten ist und Wasser trinken, um vom Magen nicht auf links gestülpt zu werden. Auch das Rauchen könnte ich sein lassen und das betrunkene Nachrichtenschreiben kurz vor dem Heimweg.

Stattdessen fliegt mir mein eigenes Hirn um die Ohren, wenn ich meinen Körper in schäbigen Gummizellenkellern zu schrammelig-wobbeliger Nichtmusik explodieren lasse. Der Raum steht in Flammen, damit ich ihn mit meinen Schweißperlen löschen kann. Verwischte Schminke malt mir Augenränder ins Gesicht, ich rieche nach Kneipenmutti und Vogelkäfig, sehe scheiße aus und bin glücklich. Statt Wasser kaufe ich Red Bull, um den Morgen nicht zu verschlafen und der Magen dreht sich erst später um. Wenn ich im Bett liege und SMS schreibe, die niemand lesen kann.

 

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=UTHZDsiujhQ[/youtube]

Ich könnte die Helden meiner Jugend vergessen, weil ich erkannt habe, dass es Besseres gibt. Ich könnte alte Fotoalben sortieren und darüber lachen, wie ich früher war und wer ich war und wie ich aussah. Ich könnte in mir ruhen und angekommen sein, bei mir selbst. Ich könnte anfangen, Poster in Glas zu rahmen und endlich Untersetzter für den Wohnzimmertisch kaufen.

 

In meinen Wänden klaffen Narben von all dem Klebeband, das die Poster mit meinen Helden drauf hält. Ich weiß noch immer nicht, ob ich Acid Rock bin oder Dubstep oder Jazzer, nicht an einem einzigen Tag kann ich mich entscheiden. Meine Fotos stecken nicht in Alben, sondern in der Chaoskiste. Ich schluchze ein bisschen, wenn ich sie sehe, weil es früher nicht schlimm war, unentschlossen zu sein, ich weine, weil es so schön war, nichts zu müssen und alles zu dürfen. Weil ich mein verfilztes Haar von damals gern wieder hätte, bloß weil sich sowas heute nicht mehr gehört. Ich kreische, wenn ich Bikini Kill höre und Brandon Boyd sehe. Ich finde mich oft, weil ich mich ständig verliere. Und ich kratze lieber Kaffeeränder vom Holztisch, als mein Karma mit miesen Untersetzern zu versauen.

Foto: Nike van Dinther

Ich könnte mich gesund ernähren, aber ich esse lieber Pizza. Ich könnte Briefe pünktlich zur Post bringen, statt sie in die Schuhe meiner Mitbewohnern zu legen. Ich könnte in meine Rente einzahlen, aber ich lebe lieber und ein Sparschwein hab ich auch nicht. Ich könnte meine Dreckswäsche sortieren, stattdessen trage ich Grau. Denn es ist mir egal. Ich könnte, könnte, könnte, dabei weiß ich nichtmal, was ich will.
Manchmal stehe ich lange vor dem Spiegel und betrachte meine allererste Falte, mitten auf der Stirn. Nicht die Jahre sind schuld, sondern die Nikotinüberdosis, jeden Tag. Eine kleine, ganz feine zweite Linie bildet sich neuerdings darunter und auch die kommt nicht vom Alter. Sondern vom Stirnrunzeln und Kopfzerbrechen. Seit ich das weiß, habe ich Angst. Angst davor, erwachsen zu werden.

 

17 Kommentare

  1. Lea

    Du schreibst so super gut! Bitte nie aufhoeren zu schreiben meine Liebe : )

    Wuerdest du ein Buch schreiben, ich wuerds bestimmt in einem Zug durchlesen…

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  2. dumdidu

    warum auch vernünftig sein (und als einziger großer akt der vernunft kommt mir das sogenannte erwachsen-sein vor)…
    schöner text!

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  3. Kathrin Panzer

    Mit 23muss man aber auch noch gar nicht….!!! Weder erwachsen werden noch erwachsen sein…erst mit 30 …, oder 40? Oder wenn man schwanger ist?

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  4. Nike Artikelautorin

    Hihi. Liebe Karin, das find ich super. „Du musst erst erwachsen werden, wenn du schwanger bist“. Das schreib ich mir hinter die Ohren!!

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  5. Claire

    Typisch Nike! Herrlich geschrieben, nachdenklich und anregend – dazu hat Erich Kästner einmal gesagt: „Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch“. Weiter so, liebe Nike – und bitte nicht erwachsen werden!

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  6. Nike

    ihr lieben. ich meine übrigens kathrin und nicht karin. ich würde sogar ganz vielleicht ein buch schreiben, wenn ich überhaupt eine idee hätte und nicht so ungeduldig wäre. und selbstbewusster und alles. vielleicht ein kurzgeschichtenbuch, da würden die leute dann nicht über einen ganzen roman, sondern vielleicht nur über die hälfte der geschichten meckern. oder eine kollumne! hach neuer lebenstraum.

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  7. Ines

    oh, wie schön… <3
    aber erwachsenwerden ist eh überschätzt. eigentlich heißt es spießig werden. und das will doch im grunde keiner. nur das problem mit den entscheidungen, das nervt manchmal…

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  8. Tine

    du schreibst so wundervoll.

    wollte ich dir nur mal sagen:) du beschreibst das, mit dem wir uns täglich auch rumkämpfen. toll toll toll.

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  9. doc-hollywud

    „Nur wer sich selbst ständig hinterfragt, erlangt wahres Wissen“
    könnte von confuzius sein, is aber von mir

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  10. Esther

    Mich irritiert gerade, dass ich mir nie Gedanken über sowas mache.
    Ich bin der Spießer, der sein Studium in Regelstudienzeit durchzieht, einen Job mit aussicht auf Übernahme hat und freitags mit dem Tee auf der Couch sitzt und um 22 Uhr den Bürgersteig hochklappt. Und doch klopft die unvernunft viel zu oft ans Fenster, lockt mich raus und lässt mich wieder 15 sein. Aber mir Gedanken darüber machen, ob ich jetzt spießig (alt) bin oder nie erwachsen werde, weil mein Kopf eigentlich doch gefüllt ist mit Regenbögen, Knete und Murmeln, mache ich mir nicht.
    Und warum seine wertvolle Zeit mit Grübelei über sowas verschwenden, wenn man doch so, wie man ist, glücklich durchs Leben kommt?

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  11. Katja

    Dieses gottverdammte Thema. Es macht mich wahnsinnig. Ich mache mir immer wieder dazu meine Gedanken, teile sie nicht und werde deshalb verrückt. Ist es normal mit 19 über so etwas zu philosophieren? Ich ertappe mich oft, wie ich mir selbst sage: Nein! Das ist nicht normal.
    Dein Text ist gut und hilft mir irgendwie. Und auch wieder nicht, weil ich verwirrt bin. -.-

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  12. Julia

    So schön – und so wahr.
    Und ich glaube: Ab einem gewissen Punkt (oder eher: an mehreren Punkten mitten im Leben) wird man eh ein bisschen dazu gezwungen, erwachsen zu sein. Das beginnt mit dem sich-Gedanken-machen um das passende Studium (bei dem man ja meist auch den Beruf dazu schon im Hinterkopf hat), das geht weiter mit dem Beenden des Studiums, das hat bei dir sicher auch schon stattgefunden mit der Entscheidung, diesen Blog hier zu führen, der ja auch ein Schritt ins Modeberufsleben ist.
    Ich glaube, wir verbinden erwachsenwerden viel zu sehr mit Vernunft, Disziplin, und um-10 Uhr-schlafen-gehen-müssen. Aber solange man das tut, was einen glücklich macht, wird man irgendwann auch gerne erwachsen sein. Vielleicht bemerkt man es auch kaum, wächst einfach hinein, und diesen gefürchteten Punkt, an dem man plötzlich denkt: Huch, ich bin erwachsen! gibt es gar nicht.

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