„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist ein Kinder-, nein Jugendbuch, so sagt man. Auch das letzte Buch, welches ich euch vorstellte, wurde ursprünglich für kleine Menschen gemacht. Entweder mein Gehirn ist also nicht weit genug entwickelt, um deren Banalität erfassen zu können, oder aber diese Texte sind gar so wunderbar und naiv-fragend, dass auch „die großen Leute“ von Zeile zu Zeile immer mehr ins Grübeln rutschen. Ich maße mir jetzt einfach mal an, zu behaupten, dass Zweiteres zutrifft.
Zu alllererst muss gesagt werden, dass ich schwerlich mit mir haderte, bevor ich anfing, ein paar kurze Zeilen zu John Boynes Werk zu schreiben. Denn der Umschlagtext bat mich im Prinzip schon vorher darum, bloß nichts zu verraten: „Normalerweise geben wir an dieser Stelle ein paar Hinweise auf den Inhalt, aber bei diesem Buch – so glauben wir – ist es besser, wenn man vorher nicht weiß, worum es geht. Wer zu lesen beginnt, begibt sich auf eine Reise mit einem neunjährigen Jungen namens Bruno. (Und doch ist es kein Buch für Neunjährige.) Früher oder später kommt er mit Bruno an einen Zaun. Zäune wie dieser existieren auf der ganzen Welt.„, heißt es da.
Ich habe mich also dazu entschieden, allen, die dieses Werk, diese Fabel oder diesen Roman, was auch immer es ist, noch nicht gelesen haben, wärmstens ans Herz zu legen, genau das schleunigst zu tun. Ihr werdet schmunzeln, aber noch öfter weinen. Ganz bestimmt. Jedenfalls, wenn ihr so nah am Wasser gebaut seid wie ich. Dann würde ich eben jenen obendrein empfehlen, diesen Artikel genau jetzt zu verlassen. Macht ihr aber eh nicht, ich weiß.
Deshalb ein wenig verschlüsselt für alle Pyjama-Jungen-Kenner:
Was ist denn das nun für ein Buch? Es ist verfilmt und mit dem Irish Book Award ausgezeichnet worden, wurde von sämtlichen Kritikern in den Himmel gelobt und eine sehr einheitliche Prognose lautet: „Das wird ein Klassiker, irgendwann.“ (FAZ) Vielleicht schon morgen. Unterhält man sich mit anderen Bücherwürmern über dieses binnen kurzer Zeit geschriebene Werk, so prallen Welten aufeinander. Die einen können sich vor lauter Gefühl kaum auf dem Boden halten, vor lauter empathischer Verzweiflung kaum mehr beruhigen. Die einen sind begeistert. Und dann gibt es noch die, die meckern.
Das Buch soll also aus der Sicht einen Neunjährigen geschrieben sein. Wieso aber erkennt denn dieser gescheite Bub nicht, dass es „Führer“ und nicht „Furor“ heißt? Wie kann er nicht kapieren, dass er sich vor dem Gelände des KZs in Ausschwitz befindet, wieso versteht er nicht, was den Menschen dort passiert, wenn er doch in einer nationalsozialistisch geprägten Gesellschaft aufgewachsen ist? Stimmt, das habe ich mich auch gefragt. So naiv kann doch auch kein fast Zehnjäriger sein, man hätte ihn als Sechsjährigen dastehen lassen müssen, sagt da jemand in den Amazon-Kommentaren. Viele Leser entschuldigen solch abstruse Verwirrungen mit dem Hinweis auf den Zusatz-Titel des Buches: „Eine Fabel“. Und hier steigen die wirklich kritischen Kritiker gleich wieder mit einem Todschlagargument ein: In Fabeln kämen schließlich keine echten Menschen vor, dann müsse dieses Buch vielmehr eine Parabel sein, aber eine Parabel erzählt Erfundenes. „Ausschwitz und der Holocaust sind keine Fiktion, wie soll man also ein „Märchen“ daraus machen?“ So oder so ähnlich drückte man es aus.
Ein gewisser Herr Thomas Göttges treibt es quasi auf die Spitze: „Sollte sich die Moral der Geschichte aber tatsächlich NUR auf die Freundschaft beider Jungen beziehen (ohne eine wirkliche Verbindung mit dem KZ-Auschwitz), so wäre dies eine fast noch größere Frechheit von John Boyne. Der Holocaust forderte über 6 Millionen Opfer – eine unvorstellbare Zahl, die noch nicht einmal die Überlebenden beinhaltet, welche kaum weniger zu bedauern sind. Diese dann für eine solch konstruierte Geschichte herzunehmen, könnte ich dann wirklich nur noch als „Verkaufsfördernde Maßnahme“ bezeichnen.„
Und hierbei muss ich letztendlich passen. Ich hisse nicht die weiße Flagge, sondern tippe mir mit dem Finger gegen die Stirn. Um Gottes Willen, welche Bösartigkeit man einem Autor doch unterstellen kann. Einem Autor, der mich und viele andere hat schwitzen lassen, sogar Bauchweh kann einem dieses Buch bescheren. Weil es so sehr berührt, aber ganz vorsichtig. Muss denn immer alles bis auf das letzte Wort ausgeschlachtet werden? Kann nicht einfach mal etwas gefühlsgesteuert, statt ausnahmslos faktisch korrekt sein? Ich hoffe und glaube, dass jeder, der diesen Text liest, weiß, dass der Holocaust viele Millionen Opfer gefordert hat. Dass das alles eine mehr als perverse, unsagbar grauenhafte, wiederliche, riesengroße Katastrophe war. Man muss sich wirklich sehr zusammenreißen, nicht jedem Nazi auf der Straße ins Gesicht zu spucken. All das ist mir sehr bewusst. Ich glaube aber sehr wohl, dass eben dieses Grauen gerade durch die subtile Art und Weise der Nicht-Erzählung vieler Fakten in diesem Buch, unterstreicht, statt es, wie viele es zu behaupten wagen, auszuklammern. Fakten, Daten und all das, kenne ich aus der Schule, aus dicken, gigantischen Büchern, aus dem Studium, von meinem Opa. Und wenn ich mich wirklich informieren will, noch mehr wissen möchte, dann kaufe ich mir weißgott keinen Roman. Ein Roman basiert meiner Meinung nach auf dem Gefühl, welches er beim Leser erzeugt und hinterlässt. Ich denke noch jetzt an den „Jungen im gestreiften Pyjama“ zurück. Das soll ja wohl was heißen.
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=9ypMp0s5Hiw[/youtube]
Mehr Kommentare lesen und Buch bestellen, hier.