Manchmal sitze ich in der U8 und beobachte traurige Menschen. Oder lustige Menschen, einfache Menschen, Möchtegernmenschen und Menschen, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie überhaupt merken, dass sie Menschen sind. Jeder kennt das. Gedanken pumpen durch den Kopf, und zwar so schnell und planlos, dass man alles Gedachte schon nach ein paar Minuten wieder vergessen hat. In solchen Situationen zücke ich mein Tagebuch. Nicht, um Sätze wie „Heute war wieder ein irrer Tag“ aufzuschreiben – doch, auch! – aber vor allem, um Einfälle, Geistesblitze und Erkenntnisse zu konservieren. Wenn man groß ist, dann hat man für so etwas in der Regel ein Notizbuch. Auch ich besitze so etwas, musste aber nach Jahren feststellen, dass mich meine eigene „Bibel der Inspiration“ im Grunde mehr behindert als fördert, mir am Ende sogar Bretter vor den Denkapparat schiebt.
Weil ich Zwänge entwickle, zum Beispiel diese Sache mit den richtigen Kugelschreiber. Ein Mal mit blauer Farbe gestartet, ist es mir unmöglich plötzlich einen schwarzen Stift zu benutzen. Alles muss irgendwie seine Ordnung oder gewollte Unordnung haben, auch allererste Ideen sollten im besten Fall visuell ansprechend sein, schließlich will man irgendwann einmal dieses Buch aufklappen und denken „Wow, deine Einfälle sind ja der Wahnsinn!“. So läuft das aber nicht. Und jedem, der sich mit ähnlichen Problemen herumschlägt, empfehle ich das Umsatteln auf das konventionelle Tagebuch, bloß im unkonventionellen Sinne. Man fühlt sich dabei ziemlich pubertär und kindisch, keine Frage. Wenn man’s aber zulässt, staunt man Bauklötze, was da alles in den Untiefen des Kopfes schlummert.
„Habe heute mit Anna den Film „Vicky, Cristina, Barcelona“ geschaut – Bin ich jetzt Vicky oder Cristina?“
Ein Tagebuch unterliegt schließlich keinerlei Regeln. Egal ob man Torben heute scheiße fand und mit fetten Lettern ICH HASSE DICH auf die leere Seite kritzelt, Bilder von Freunden und Helden einklebt oder ganze Kurzgeschichten verfasst, erlaubt ist alles, was Spaß macht, sinnlos ist oder das Herz zum Hüpfen bringt. Der Grund für mein persönliches Tagebuch-Comeback war dabei eigentlich ein anderer: Von leichter Paranoia gebeutelt, unterliege ich der ständigen Angst, irgendetwas vergessen zu können. Schlüsselmomente, Lieblings-Tracks, irrwitzige SMS der besten Freundin. Was, wenn ich morgen mein Gedächtnis verliere? Was schräg klingt, kann aber zu einem ziemlich netten Hobby für die wenigen Momente, in denen man allein ist, avancieren. Bilder auswählen, ausdrucken, kritzeln, Belangloses loswerden, Aggressionen rauslassen, Liebe visualisieren. Allesallesalles – Ohne den Gedanken „Scheiße, sowas gehört jetzt wirklich nicht ein Notizbuch, diese neurotische, kindische Rumlaberei“. Ich sage: Doch! Weil alles, was aus Spontanität oder dem Herzen entspringt am Ende irgendwie Sinn und in der Retrospektive ziemlich glücklich macht.