Ich weine selten, während ich lese. „Das Leben von Eddy“ hat mich oft weinen lassen, wegen der Zeilen, Zitate und dem Zittern in der geschriebenen Autoren-Stimme. Wegen der aufkommenden Wut auf die beschränkte Menschheit und auf sämtliche Protagonisten des Debüt-Romans dieses französischen Wunderkindes, das seine eigene Geschichte aufgeschrieben hat, um dem Leben von früher zu entkommen und in ein neues aufzubrechen. Um gehört zu werden, um anderen, die so sind wie er, Édouard Louis, Mut zu machen, vielleicht aber auch, um Exorzismus zu betreiben, um die bösen Geister der Vergangenheit los zu werden. Nicht jede Zeile sei autobiographisch, heißt es. Aber wahr genug, um nachzuhallen wie die Schreie seiner überforderten Mutter. Wie sein eigenes Wimmern, wenn der Bruder ihn wider und wieder tot schlagen wollte, wenn der autoritäre Vater nicht an sich halten konnte. Scheiße nochmal, wieso heult der immer, warum ist der so? Das soll ein Kerl sein? Ich habe ihn nicht erzogen wie ein Mädchen, verfluchte Scheiße. Reg dich ab, muss das sein, dieses tuntige Gefuchtel.
Der hochbegabte Soziologiestudent schreibt darüber, wie man eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, zwischen Rassismus, Missbrauch und Gewalt überlebt, wenn man schwul ist.
In „Das Leben von Eddy“ führt der ich-Erzähler uns mit scharfer Sprache und kühler Distanz an unfassbare Begebenheiten heran, er beschreibt die Hölle einer Kindheit, ohne dabei Mitleid erzeugen zu wollen, ganz so, als wäre da noch immer eine Art posttraumatischer Schutzwall, der zu viel Nähe zum Geschehen nicht zu lässt. Und trotzdem sind wir mit jedem Satz mittendrin, man liest einen nach dem anderen ohne Absetzen zu können.
Eddy Bellegeule wird in der französischen Provinz geboren, seine Eltern sind stolz darauf, arm zu sein. Wir sind eben einfache Leute. Der Fernseher läuft nahezu pausenlos, 700 Euro reichen für 7 Personen, der Vater säuft. Schon als kleiner Junge bemerkt Eddy, dass er anders ist, seine Hände flattern beim Reden, er interessiert sich für Tanz und mag Puppen, seine Stimme ist hell, er bewegt sich sanfter als die Kerle in seinem Viertel. Schau mal, da ist Bellegueule, der Schwuli. Das ganze Dorf tuschelt, in der Schule misshandelt man ihn. Schläge ins Gesicht, aber keine Träne von Eddy. Sein Zuhause ist weder Stütze, noch Hilfe, mehr ein dunkles Nest, das alles nur noch schlimmer macht. Die Mutter lacht, während sie die Anekdote ihrer Fehlgeburt abspult. Es ist im Klo gelandet. Jeder Tag ist neu, aber gleich schlimm. Ein ganzes Buch lang – Bis der kluge Junge plötzlich erfährt, was Glück bedeutet. Dank eines Stipendiums kann er das Gymnasium besuchen, für sein Studium geht er nach Paris – in die Stadt, die aus Eddy Bellegueule schließlich Édouard Louis, einen Bestseller-Autoren, gemacht hat.
„Das Ende von Eddy“ von Édouard Louis. Erschienen im S. Fischer Verlag.