Der Teufel liegt für den modernen Menschen im Wahnsinn des ständigen Vergleichens vergraben, man schaut nach links und rechts, meist nach oben, aber nur selten in die Mitte des eigenes Seins. Weil das Gras woanders immer grüner scheint, vergessen wir häufig, selbst welches wachsen zu lassen, solches, auf dem sich im besten Fall ein bequemes Leben ohne Druck von Außen führen ließe. Das aber würde zum Müßiggang führen, zu Entspannung und Gelassenheit, drei Anti-Stärken, die mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Weil wir uns beim Erfüllen fremder Erwartungen beinahe selbst überschlagen, weil wir überhaupt nicht mehr wissen, wo wir hin gehören, was wir wollen oder nicht. Geburtsdaten spielen hierbei mitunter die größten Rolle, belegen womöglich sogar den ersten Platz sämtlicher Feinde, die uns auf dem Weg zum selbstbestimmten Leben immer wieder zwischen die Beine grätschen. „Benimm dich deinem Alter entsprechend“, heißt es ständig. Eine Aufgabe, die besonders jenen schwer fällt, die sich nichts aus Zahlen machen.
Viel lieber als die Dinge einfach passieren zu lassen, hecheln wir Idealen hinterher, mit denen wir im Grunde nichts anfangen können und wenn wir es anders machen, kehren uns Dritte Scheiße vor die Tür. Das klingt dann in etwa so: Die zieht sich an wie 50, ist aber erst 30 / Die verhält sich wie 15, ist aber 25 / Die tut so, als wäre sie schon wer / Die hat noch immer nichts erreicht im Leben / und so weiter und so fort. Ich kenne das gut.
Beim Betrachten der omnipräsenten Dielenbodenwohnungen in meinen Lieblingsmagazinen, dreht sich mir im Angesicht des Hartplastiks unter meinen Pantoffel-Füßen in regelmäßigen Abständen der Magen um. Müsste ich auch längst vier Zimmer, Küche, Bad besitzen, ein Eigenheim sogar und einen Volvo? In die Rente einzahlen und einen braven Scheitel tragen, statt ewig die Haarspray-Palme zu performen? Nee, sagen dann alle, du bist ja erst 27. Oder schon. Je nachdem, wie das Gegenüber selbst aufgestellt ist. Es geht auch anders herum: Beim letzten Schnaps auf der WG-Party meines noch immer fröhlich studierenden Ex-Mitbewohners kam ich mir vor wie ein altes Schaf auf dem Rummel. Eines, das vergessen hat, sich locker zu machen. Das selbst mit Partystrohhalm im Mundwinkel an die Steuernachzahlung und neue Windeln denkt, statt an das Katerfrühstück am nächsten Morgen. Dazwischenklemmen, nennt man das. Zwischen verlorener Jugend, weil zu früh angefangen, und endlich Erwachsenwerden, weil doch noch so viel zu tun ist. Und zu erreichen. Dabei sollte das Leben alles andere als ein Supermario-Parkours sein, auf dem es so viele Münzen wie möglich einzusammeln gilt. Manchmal ist es aber so, besonders wenn das Auseinanderpflücken der erreichten Erfolge am Jahresende zum kurzweiligen Volkssport avanciert. Ich glaube, die Praxis des retrospektivischen Betrachtens kann krank machen. Weil es kein richtig und kein falsch gibt, nichts, an dem man wahres Glück messen könnte, bloß Erwartungen und Regeln, die meist Menschen aufgestellt haben, die längst unter der Erde liegen oder niemals existierten.
„Man ist immer so alt, wie man sich fühlt“, sagen Floskelschwein-Fütterer. Schwer wird es, wenn man überhaupt nicht weiß, wie man sich fühlt, weil das Leben morgen schon wieder ganz anders blüht als gestern. ZsaZsa Gabor beispielsweise erkannte schon früh, dass es etwa zehn Jahre kostet, sich an das eigene Alter zu gewöhnen. Dass man sowieso gefangen ist zwischen Nostalgie und Erwartungshaltungen, zwischen Zukunftswahn und Vergangenheitsliebe. Sich zurecht zu finden ist ein Hexenwerk, das nur gelingt, wenn man ausnahmsweise sich selbst als Maßstab nimmt. Bleiben noch all jene Störenfriede, die ihren Senf am liebsten auf fremden Tellern verteilen. Ignorieren ist die beste Medizin. Nur leider ist sie im Fall von selbst eingefangen Bazillen des Zweifels komplett machtlos.
Man könnte sich an dieser Stelle also höchstens noch auf die Weisheit großer Literaten verlassen. „Das Alter, das man haben möchte, verdirbt das Alter, das man hat“, befand Paul Heyse einst. Man kann jetzt dagegen sein sich ganz folgerichtig fragen, was ein paar Nummern im Ausweis schon über sieben Milliarden Menschen aussagen sollen, die zweifelsohne alle anders ticken, andere Ziele verfolgen, andere Voraussetzungen haben. Aber im Grunde lag der deutsche Schriftsteller mit seiner Feststellung gar nicht so sehr daneben. Vielleicht sollten wir uns aber zuerst ein Alter aussuchen und uns anschließend dementsprechend verhalten.
Heute bin ich also Neunzehn und auf der Suche nach dem Sinn, morgen steht ein wichtiger Termin im Kalender, ich werde 123 sein oder vielleicht erst 74, aber weise und ruhig wie die Schildkröte Kassiopeia. Und wenn ich dann nach Hause komme, werde ich den Plastikboden küssen und ihm dafür danken, dass es ihn gibt. Dafür, dass er gerade so gut zu mir passt und ich werde ihm versprechen, so schnell nicht zu gehen. Weil mir egal ist, was meine Nachbarn treiben oder sonst wer, der ein ganz anderes Leben führt als ich, weil ich weiß, dass nicht der Holzboden das Problem ist, sondern die Bewertungsgesellschaft da draußen, die sagt, er sei nicht schön. Finde ich aber schon. Ab jetzt – Bis die Zeit wirklich reif ist für echtes Holz.