Ich besitze einen alten Hutkarton, den ich nur sehr selten öffne, eine Büchse der Pandora sozusagen, deren Inhalt auf mich ganz ähnlich wirkt wie ein Tropfen feinster Vodka auf einen trockenen Alkoholiker. Auf dem Deckel kleben Weinränder und das einstige Weiß des Kartons gleicht jetzt den fleckigen Wänden einer Kettenraucherwohnung. Vielleicht, weil wegen dieser kleinen Kiste tatsächlich so viele Zigaretten vor die Hunde gegangen sind. Und noch mehr Pinot Grigio von Rossmann. Handgeschriebene Liebesbriefe schlummern in ihr, auch eine kurze Schlussmach-Notiz, Erinnerungen, viel Müll wie Konzertkarten, ein Ring, selbstgedreht aus dem Aluminiumpapier einer Bierflasche und Fotos. Die meisten zeigen Menschen in Zweisamkeit, einer davon bin immer ich. Der Hutkarton ist die letzte Ruhestätte meiner jugendlichen Verliebtheiten. Eine Chronik der gescheiterten Konservierungsversuche von etwas, das man „für immer“ nennt. Hat natürlich nie geklappt. Zu bereuen gibt es trotzdem nichts und genau das ist das Problem.
Die meisten meiner Freundinnen sind ziemlich froh, wenn einer ihrer Exfreunde das Land verlässt, je weiter das Ziel entfernt ist, desto besser. Eine der besonders Traumatisierten hat es einst fertig gebracht, ganze sieben Minuten lang unter unserem Tisch nach imaginären Kontaktlinsen zu suchen, bloß weil Jonas, „der Irre“, plötzlich am anderen Ende des Restaurants auftauchte. Wieder eine andere findet, ihr Männergeschmack sei Jahre lang konstant schlechter geworden, beim Gedanken an Verflossene werde ihr außerdem manchmal ganz heiß vor Ekel. Ich hingegen winke meist wie eine dieser Chinakatzen, sobald einer der Ritter meiner Vergangenheit im Anmarsch ist. Glück im Unglück, Segen und Fluch zugleich, aber vor allem eins: irritierend. Weil man zwar loslassen, aber nicht vergessen kann.
Meine erste Liebe ist bis heute klug, schön und charmant, ein ziemlicher Jackpot, bloß nicht meiner. Wir freuen uns aufrichtig, wenn wir uns sehen, schicken regelmäßig und stolz Kinderfotos durch das Handynetz und fragen, was die Familie so treibt, ein bisschen wie Geschwister das tun. Der Nächste war ein Hallodri mit großem Talent für gesellschaftskritische Kunst, es folgte ein theaterverliebter Tausendsassa, der die schönsten Möbel baut, einer, der die Berge lieber mochte als mich, ein Musiker, der die ganze Welt kennt, aber am liebsten in Italien lebt, dann ein paar wenige heiße Männereisen, Turteleien, von denen jede einzelne ihren ganz besonderen Charme hatte. Kein einziger Fehltritt war dabei, die Trennungsgründe gelten bis heute allesamt als relativ erwachsen, auch wenn nicht nur ein Herz ziemlich heftig bluten musste, auch meins. Ich habe Männer jedenfalls schon immer wirklich gern gehabt und den Besten glücklicherweise längst an meiner Seite. Aber genau der hat es manchmal schwer. Weil meine persönliche Messlatte inzwischen höher hängt als der Eifelturm. Weil kein Mensch alles sein kann. Und weil man in schwachen Momenten genau das will, was im Alltag mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu einem Wuthaufen aus zerschmettertem Geschirr führen würde. Nostalgie ist deshalb eine der lähmendsten, bescheuertsten Erfindungen der menschlichen Gefühlswelt. Es ist ja kein Geheimnis, dass man dazu neigt, das Vergangene zu romantisieren und trotzdem werden die Wangen manchmal rot, wenn einer aus dem Hutkarton schreibt.
Das Erdrückende an dieser Misere hat allerdings keineswegs etwas mit unverarbeiteten Gefühlen zu tun, damit dass ich zurück wollen würde zu einer Person, die längst ihre eigenen Wege geht, nein gar nicht. Wenn etwas nicht funktioniert, dann aus Gründen; vom Aufwärmen halte ich deshalb wenn überhaupt nur im Fall der einen, ganz großen Liebe etwas. Was mich in Wahrheit fuchsteufelswild macht, sind all die Momente, die nie wieder kommen werden. Nicht die Beziehungen an sich, sondern die Erinnerungen, die an jeder einzelnen mit dran hängen. Die Lebensabschnitte, die Menschen, Wohnungen und Gewohnheiten. Das „Pretty Vacant“ in Düsseldorf, die 5-er WG, Gitarrengeplänkel im Schlafzimmer, das nicht wissen, wann das Wochenende aufhört, das keine Steuern zahlen müssen, das einfach mal zusammen im Bett liegen bleiben, weil die Uni warten kann, das „alle machen heute blau“ Gefühl. Und vielleicht auch das eigene Ich von damals, das Mädchen, das mehr Zeit zum Plattensuchen hatte als Arbeit, das nicht wusste, wer die Chefredakteurin der VOGUE, aber der letzte Kaiser von Abessinien ist. Ich hätte all das manchmal wirklich gerne wieder. Und am liebsten einen Mann, der dreißig Instrumente und Theater spielt, Freigeist und trotzdem mordsmäßig erfolgreich ist, der zehn Sprachen spricht, die Welt bereist und trotzdem immer da ist. All die Verflossenen in einer Person quasi. Bloß vergesse ich beim gelegentlichen Segeln zwischen längst verschollenen Wellen gern die Feuerquallen unter der Oberfläche, ich verdränge dann, dass ich im Angesicht eines solchen Mutanten wahrscheinlich schon nach zwei Tagen wie Silvia Plath enden würde, nämlich mit dem Kopf im Backofen.
Es ist keine große Leistung, in der Retrospektive alles rosarot zu sehen und beim Gedanken an das Glück von damals in Trauertränen zu ersaufen, weil es gerade mal nicht so recht klappen will mit dem spannenden Leben. Die Kunst besteht allerdings darin zu akzeptieren, dass alles seine Zeit hat und dass keine jemals besser sein kann als das Hier und Jetzt – wir müssen nur selbst dafür sorgen. Damit aus der Büchse der Pandora endlich ein ganz normaler Hutkarton wird, eine vergilbte Kiste vollgepackt mit harmlos schlummernde Erinnerungen an eine Zeit, die keineswegs schöner, sondern nur ein bisschen anders war.