Wenn wir über H&M reden, meinen wir vor allem den Fast Fashion Giganten, der ständig neue Ware liefert und Trends binnen weniger Wochen assimilieren und auf den Markt werfen kann, der am Konsum-Rad dreht wie nur wenige seiner Konkurrenten. Mit Nachhaltigkeit hat das Konzept der schnellen, erschwinglichen Mode auf den ersten Blick wenig zu tun – und trotzdem engagiert sich das schwedische Unternehmen bereits seit der frühen 00er Jahre für einen bewussteren Umgang mit den Ressourcen der Welt, für fairere Arbeitsbedingungen und Innovationen, die den Markt von innen heraus zu einem gesünderen machen sollen. Der Vorwurf des Green Washings, also des Gutmenschtums zu PR-Zwecken, liegt da selbstverständlich nahe. Warum sonst sollte sich ein derart erfolgsorientierter Konzern, dessen erstes Ziel es selbstverständlich ist viel zu verkaufen und billig zu produzieren, schon aufrichtig um die Sorgen der eigenen externen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen scheren? Oder gar um die Natur. Dass Menschen auf der anderen Seite des Erdballs für unser schnelles Mode-Vergnügen leiden, ja sogar sterben müssen, ist ein nur allzu gern tabuisierter Fakt – dem Erfolg der vertikalen Textilunternehmen tut dieser Umstand allerdings keinen Abbruch, zu einfach ist es, im Kaufmoment den Denkapparat auszuschalten. Bis jetzt.
Ann-Sofie Johansson (Creative Advisor H&M) & Julia Roitfeld
Die Modebranche ist eine kranke Branche. Eine todkranke, wenn man so will, die sich selbst an den Galgen hängen wird, sollte sie so weitermachten wie bisher. H&M ist sich dessen bewusst und, ganz gleich aus welchen Beweggründen, auf dem Weg der Besserung. Inzwischen kümmern sich ein mehr als 200-köpfiges Team darum, den Traum von einer lückenlos nachhaltigen Produktion greifbar zu machen – ein enormes, beinahe heuchlerisch klingendes Ziel, das nicht binnen einer Nacht umsetzbar, aber dringend zu erreichen ist. Es wird noch Jahre dauern, vielleicht 15 oder 20 oder 30. Bis dahin wird alles nachhaltiger-er, schöner-er, besserer-er, lebenswerter-er und jedes Reden über Veränderung zu einer Aneinanderreihung von Komparativen, die im Grunde nur die Metamorphose eines grausamen Ist-Zustands hin zu einem gefühlt weit entfernten Soll-Zustand beschreiben.
Statt sich aber wie viele andere erfolgreiche Modeketten vor den damit einhergehenden Kontroversen zu verstecken, geht H&M offen mit den Schwachstellen und Problemen um, die beim Versuch Fast Fashion mit Nachhaltigkeit zu verbinden aufkommen. Anlässlich der Präsentation der diesjährigen Conscious Collection, die seit 2011 alle zwölf Monate erscheint, wurde in Paris vergangene Woche zwar auch um den heißen Brei geredet, aber vor allem diskutiert, aufgeklärt und Bilanz gezogen.
Anna Gedda „Head of Sustainability“
Anna Gedda, „Head of Sustainability“ bei H&M, wurde auf dem Land in Schweden geboren, zwischen grünen Wäldern und blauem Himmel. Sie studierte Politik und Wirtschaftswissenschaften, absolvierte zwischenzeitlich ein Praktikum bei der UN und wollte irgendwie die Welt retten, wenn auch nur ein bisschen. Also ging sie nicht in die Politik, sondern wandte sich der Industrie zu, vor allem aus dem Glauben heraus, die Dinge ließen sich von hier aus am ehesten ändern. Mit ihrem langen schwarzen Haar und der melodischen Stimme erinnert Gedda unweigerlich an Liv Tylors Rolle als Elbin in Tolkiens Herr der Ringe; es ist schwer, ihr nicht kritiklos aus der Hand zu fressen. Es klingt ja auch alles so hoffnungsvoll:
Seit der Einführung von „Close the Loop“, der Möglichkeit getragene Kleidung in sämtlichen Filialen wieder abgeben und damit zurück in den Konsum-Kreislauf werfen zu können, wurden mehr als eine Million T-Shirts mit 20%igem Anteil an reycelten Materialien hergestellt und wiederverkauft, etwa 90 Millionen PET-Flaschen wurden darüber hinaus zu neuen Polyester-Stoffen verarbeitet, immer mehr recyceltes Denim hält Einzug in die Kollektionen, die aktuelle nachhaltige Conscious Collection besteht unter anderem sogar aus recyceltem Glas. Viel Geld fließt also in die Forschung, ein Langzeitprojekt, das, wie im echten Leben, immer erst kleine und irgendwann dann prächtige Früchte abwirft. Im Jahr 2015 trugen zudem 20% der ingesamt verwendeten Baumwolle für H&M-Produkte die Labels „Better Cotton“, „Recycled Cotton“ oder „Organic Cotton“ – in einer Utopie hieße das auch: gute Arbeitsbedingungen für jene, die die Baumwolle anbauen, pflücken und verarbeiten. Wer noch nie selbst vor Ort war, scheitert hier womöglich schon an der Glaubensfrage. Wie gut kann es jemandem gehen, der ein T-Shirt herstellt, das am Ende für 5,99€ im Laden hängt? „Immerhin wirklich in Ordnung“, glaubt einer der H&M Mitarbeiter aus dem Sustainability-Team, der es für wichtig hält, dass die Zustände in den Fabriken weiterhin 3-4 Mal jährlich ohne Ankündigung kontrolliert werden (wie aufschlussreich besagte Besuche tatsächlich sind, bleibt allerdings fragwürdig). Die Rechnung ist jedenfalls ganz einfach, vielleicht auch zu einfach: Wer massenhaft Stoffe kauft, spart massenhaft Bares; jeder kennt ihn, den Mengenrabatt. Man wünschte sich nur, ähnliches würde nicht auch für Fabrikarbeiter gelten.
Warum H&M nicht einfach mehr Gelder in die Hand nimmt und für einheitliche Mindestlöhne plädiert? Been there, done that. Nur führte das gut gemeinte Vorhaben Firmen-intern angeblich zu allerlei, sagen wir, „Streit“. Denn wenn nicht alle Unternehmen, die in derselben Fabrik produzieren lassen, an einem Strang ziehen, werden am Ende nicht nur die gewissenlosesten Sparfüchse unter den Textilkönigen stinksauer, weil sie in Zugzwang geraten, sondern auch die Näherinnen und Arbeiter selbst, die zu unterschiedlichen Konditionen ein und dieselbe Arbeit leisten müssen. H&M erhebt im Vergleich dennoch hohe Anforderungen an die Fabriken: Seit 2004 setzt sich H&M gemeinsam mit UNICEF streng gegen Kinderarbeit ein, sämtliche Partner müssen darüber hinaus uneingeschränkt den sogenannten „Code of Conduct“ unterzeichnen, der unter anderem eine gerechte Vergütung, faire Arbeitszeiten und einen sauberen und sicheren Arbeitsplatz fordert. Nun gelangen wir allerdings wieder ins Messers Schneide der Realität:
Bei etwa 900 Zulieferern und insgesamt 1,900 Fabriken kann keine vollkommende Gleichheit, geschweige denn Sicherheit gewährleistet werden, etwas anderes zu behaupten, wäre frech. Besagter Vertrag unterteilt gewisse Vorgaben deshalb in „Grundlegend“ (definiert die vorgeschriebene Leistung gemäß international vereinbarten Normen, die unter humanistischen Gesichtspunkten selbstredend nicht ausreichend, aber immerhin nicht lebensfeindlich sind), und „Ambitioniert“ – Bedeutet: eine bessere Leistung als die Erfüllung der gesetzlichen Pflichten und internationalen Normen der Stufe „grundlegend“. Hierzu heißt es: H&M wird auch in Zukunft Business Partner, die unser Ziel der Förderung von Nachhaltigkeit sowie unser Bekenntnis zu kontinuierlicher Verbesserung teilen, einbinden, gemeinsam mit ihnen wachsen und sie belohnen. Was als Umgehen handfester Taten abgetan werden kann, ist allerdings nicht unklug. Eine Branche, die jahrelang an der Zerstörung ethischer Werte beteiligt war und noch immer ist, erholt sich nicht in Handumdrehen. Auch aufgrund von sämtlichen Nebenrollen im großen Drama der Textilindustrie. Korrupte Regierungen zum Beispiel, mit denen H&M und andere Unternehmen auf dem Weg der Besserung in ständigen Verhandlungen über übergreifende, einheitliche Gesetzte stehen. Der Versuch, Nachhaltigkeit auf allen Ebenen, nämlich im Umgang mit Ressourcen und Menschen, durchzusetzen, ist niemals nur ein monetärer Prozess, sondern auch ein politischer. Warum man dann überhaupt in China oder Bangladesch, in Ländern, die noch immer unterentwickelt sind, produziert? Weil es einerseits aufgrund der enormen Mengen, die hergestellt werden müssen um unseren Durst zu stillen aufgrund mangelnder Kapazitäten kaum anders geht, aber auch, weil man Verwundete nicht einfach liegen lassen kann und darf. Besser ist es, nach Lösungen zu suchen und Genesung zuzulassen, damit aus Sorgenkindern irgendwann hoch entwickelte Industrienationen werden können. Langwierige Verhandlungen bleiben da nicht aus, genau wie Rückschläge und Stolpersteine. Solange nicht einmal die Strippenzieher im eigenen Land uneingeschränkt für die Rechte und Chancengleichheit ihrer Bürger einstehen, wird kein Unternehmen der Welt eine grundlegende Veränderung herbeiführen können. Und trotzdem: Wenn man von großen Defiziten redet, muss sich H&M als Global Player zwangsläufig mit angesprochen fühlen. Als Unternehmen könnte man zu jedem Zeitpunkt immer noch ein bisschen mehr tun. Oder viel mehr. Aber wer nachhaltig handelt, vollzieht nunmal automatisch einen Balanceakt zwischen dem eigenen wirtschaftlichen Wohlstand, der abertausende Arbeitsplätze sichert, und freiwilliger Ritterlichkeit.
Bei H&M setzt man daher vor allem auf Transparenz (als eines der ersten Unternehmen weltweit wurde 2015 die volle Liste aller Fabriken und Zulieferer öffentlich gemacht), Austausch und Bildung. Arbeiter und Arbeiterinnen werden über ihre Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt – keine Selbstverständlichkeit. Es ist nämlich offenbar noch immer einfacher, einer Pflanze Sicherheit zu bieten als einem Menschen.
Gefühlt setzt sich H&M wohl auch deshalb vermehrt mit neuen Technologien und Möglichkeiten auseinander, die einen schonenderen Umgangs mit unserem Planeten und dessen Ressourcen versprechen, und zwar gewollt öffentlich: Die World Recycle Week beispielsweise wird aktuell mit M.I.A. als Medien-wirksamem Testimonial zelebriert. Das bringt nicht nur einen wichtigen Diskurs auf den Tisch, sondern schärft auch das Bewusstsein einer ganzen Zielgruppe. Ähnlich funktioniert das Prinzip der Conscious Collection, die mit viel Tamtam beworben wird. Das grundsätzliche Gesehenwerden darf als positiver Nebeneffekt der gigantischen Marketing-Maschinerie hinter der guten Absicht tatsächlich nicht unterschätzt werden. Und auch kleine Unternehmen profitieren vom großen Geschäft mit dem reinen Gewissen: „Wenn wir nachhaltige Materialien einkaufen, kaufen wir so viel davon, dass die Preise aufgrund der Nachfrage sinken – somit werden die Stoffe auch für kleinere Firmen zugänglich. Das ist, finde ich, unsere wichtigste Aufgabe: Wenn wir als Trailblazer diese neuartigen Materialien einsetzen, werden auch andere folgen,“ erklärt Gedda und streicht sich dabei über das glatte, schwarze Haar. Sie weiß, dass hinter den Kulissen noch so vieles schief läuft. Aber auch, dass kleine Schritte mehr sind als keine Schritte.
Zweifelsohne ist die Herstellung nachhaltiger Produkte ein Thema, das in seiner Komplexität mit Leichtigkeit der weltweiten Nahrungsmittelproduktion die Stirn bietet. Jedes Bemühen verdient daher Aufmerksamkeit – und zwar gleichermaßen bewundernder wie kritischer Natur.
Ab dem 7. April 2016 wird die H&M Conscious Exclusive Collection online und in insgesamt 180 ausgewählten H&M-Filialen erhältlich sein – zeitgleich eröffnet im Musée des Arts Decoratifs die Ausstellung „Fashion Forward – Three Centuries of Fashion“.