Manchmal beschließe ich einfach, wie das Leben sein soll. Ich beschließe, dass es vorhersehbar, kalkulierbar und kontrollierbar ist. Wie eine Matheaufgabe. Es gibt richtig und falsch. Nur eine Lösung. Eine Gleichung kann eben nicht ein bisschen richtig sein: Entweder sie ist gleich oder es ist eben keine Gleichung. Es erscheint mir oft einfacher, ein genaues Ziel vor Augen zu haben und den Weg dorthin dann auch konsequent zu gehen, komme was wolle.
So geht es mir auch mit dem Thema Nachhaltigkeit. Logisch und nachvollziehbar war für mich immer: je nachhaltiger du lebst, desto besser. Wenn man etwas erkannt hat, dann muss man etwas ändern. Sofort, unmittelbar und in großen anstatt in kleinen Schritten. Was mein Hinterstübchen dabei nie durchkreuzte, war die Frage, ob Nachhaltigkeit auch Grenzen haben darf. Und ob ich mich gegen die objektiv richtige Entscheidung stellen darf, wenn sie subjektiv bedeutet, dass sich mein Wohlbefinden verschlechtert.
Im Bereich Fairness und Umweltschutz Kompromisse zu machen, war für mich immer gleichbedeutend mit Egoismus. Die Biomelone schmeckt nicht so gut wie die Konventionelle? Die Bluse von Zara sieht 300% modischer aus als ein vergleichbares fair gehandeltes Modell und kostet die Hälfte? Der Flug nach Berlin ist schneller und günstiger als der ICE? Reiß dich zusammen, Julia, es geht nicht um dich. Dir geht es doch gut, viel besser als den meisten Menschen auf diesem Planeten – worüber willst du dich beklagen? Du weißt doch, was richtig und was falsch ist. Also habe ich mich durchgekämpft, ja manchmal sogar durchgequält. Durch finanzielle Engpässe am Ende des Monats wegen zu hohen Ausgaben für faire Pullover und Biogemüse. Durch Trilliarden von Recherchestunden, um das fairste unter den fairen Siegeln zu finden. Durch Emailanfragen an Getränke- und Lebensmittelhersteller, ob ihre Etiketten auch mit veganem Kleber aufgeklebt werden. Durch die Inhaltsangaben von Kosmetikprodukten. Durch nachhaltige Onlineshops auf der Suche nach ansatzweise Tragbarem. Nicht jeden Tag duschen, keine Plastikflaschen und wenig Plastikverpackung, Waschmittel, Seife und Brotaufstriche ohne Palmöl, keine unnötigen Beautyprodukte wie Parfüm, Masken oder Haarkuren, Mitgliedschaften in NGOs, bedrucktes Papier wiederverwenden – das alles und vieles mehr habe ich umgesetzt.
Mein Leben ist deutlich nachhaltiger geworden. Und weniger schön. Viel weniger schön. Aber muss das nicht so sein? Nachhaltigkeit bedeutet doch, etwas abzugeben, damit es anderen und der Umwelt besser geht. Anderen kann es nur besser gehen, wenn es mir weniger gut geht. Schließlich leben wir hier im Westen im Schlaraffenland – auf Kosten anderer. Es ist also nur fair, selber zurückzustecken. Je mehr ich mache, desto effektiver kann ich die Ignoranz anderer durch meinen Einsatz ausgleichen. Ich war auf der Suche nach einer mathematischen Gleichung nach Frieden und Gleichberechtigung. Streng dich mehr an und die Welt wird ins Gleichgewicht geraten, das ist doch logisch.
Es stellte sich aber kein befriedendes Gefühl ein. Je mehr Gutes ich tat, desto mehr sah ich all das, was im Argen lag. Ich bin Veganerin, engagiere mich aber nicht aktiv für die Flüchtlingshilfe. Ich kaufe faire Mode und tippe Artikel darüber in meinen Mac. Ich kaufte ein Fairphone und tauschte es beschämt nach einem Jahr wieder gegen ein iPhone ein, weil es einfach nicht ging. Manchmal kaufe ich Katjes mit Bienenwachs. Einmal habe ich eine H&M Hose mit Lederpatch Secondhand über Kleiderkreisel gekauft. Ich bin schon mehr als einmal nach Berlin geflogen statt mit dem Zug zu fahren und nicht immer schaffe ich es, alle Lebensmittel in meinem Kühlschrank zu verwerten, bevor sie verderben. Und fast wäre ich an dieser mir selbst auferlegten Riesenaufgabe verzweifelt, irgendwie im Alleingang die Welt zu retten. Bis mir schließlich dämmerte, dass Nachhaltigkeit auch mich selbst mit einschließen muss. Und zwar nicht als Option, sondern als unumgänglicher Fakt.
Nachhaltigkeit bedeutet, dass ich mit Ressourcen so umgehe, dass sie gleich schnell nachwachsen, wie sie verbraucht werden. Ich habe immer mehr Energie abgegeben, als ich zurückbekommen habe. Wo bleibt mein mathematisches Verständnis? Wenn man immer nur subtrahiert, dann ist irgendwann nichts mehr übrig. Wenn ich immer nur gebe und keine Zeit einplane, um etwas für mich zu tun und meinen Akku wieder aufzuladen, dann habe ich irgendwann nichts mehr zu geben. Wenn ich von oben bis unten in fair gehandelter Mode gekleidet bin und mich Null Prozent wohl fühle, dann werde ich niemanden von Fairness überzeugen. Wenn ich sehnsüchtig beim Vorbeilaufen ins Schaufenster des nächsten H&Ms gucke und mich gleichzeitig wahnsinnig schlecht fühle, dann ist das vernichtend mir selbst gegenüber. Es ist wichtig viel zu tun, sich selbst zu fordern und den inneren Schweinehund zu bekämpfen. Aber ebenso wichtig ist es zu erkennen, wenn das entsprechende Angebot nicht vorhanden ist, wenn das eigene Wohlbefinden aus dem Gleichgewicht gerät und wenn die Aufgaben für eine einzelne Person zu groß werden.
Es gibt kein Maß der Dinge, was nachhaltiges Leben angeht. Nachhaltigkeit ist nicht gleichbedeutend mit unerbittlicher Härte sich selber gegenüber. Auch nicht mit kompromissloser Konsequenz. Eigene Bedürfnisse zu haben und sich glücklich zu schätzen, in so einem reichen Land geboren worden zu sein, ist nichts Verwerfliches. Nachhaltigkeit funktioniert nur, wenn man sich selber in den Prozess integriert. Was so völlig nachvollziehbar und logisch erscheint, ist dermaßen schwer zu leben, dass ich mich jeden Tag aufs Neue daran erinnern muss. Und am Ende steht die Erkenntnis, dass sich eine Art mathematisches Vorgehen nicht einfach nach Belieben anwenden lässt. Es gibt Dinge, die sind mehr als Null und Eins, als schwarz und weiß. Sie sind eben nicht so einfach, sondern vielschichtig und wahnsinnig kompliziert. Und wenn man nicht ständig auf der Hut ist, dann verliert man sich in ihnen.
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