Heute ist Lios erster Kitatag, ich bin nervös, obwohl ja schon ein ganzes Jahr bei seiner Tagesmutter ins Land gezogen ist, aber jetzt sitzt da morgens endgültig kein Buddha-Baby mehr in seinem Hochstuhl-Thron vor mir, sondern ein süßrotziger Frechdachs mit wachen Augen, eigenem Willen und den Pausbacken voll mit Müsli, jetzt wird der kleine Mann plötzlich wirklich groß und mein Drang nach Veränderung noch dazu. Lio und ich, wir sind uns nämlich sehr ähnlich.
Je mehr Menschen sich in unserer direkter Umlaufbahn befinden, desto tiefer ruhen wir in uns, reden müssen wir dabei nicht, wir können sogar ziemlich lange schweigen, genießen immerzu die Abwesenheit von menschlicher Ebbe, Freunde sind unsere Familie, denn die Blutsverwandten sind allesamt 600 Kilometer weit weg. Zu zweit wird uns daheim außerdem schnell langweilig und auch zu dritt. Das gemütliche Familiendasein, wie wir es sonst so kennen, schläfert uns schon nach wenigen Tagen ein, fragt mich nicht weshalb, aber am glücklichsten sind wir stattdessen irgendwo in der Natur oder zwischen Plappermäulern, Picknickdecken und Pastatellern in fremden Küchen. Ich habe deshalb, nach langem Hin und Her, entschieden, dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Wohnungsmodell lebe wohl zu sagen. Genauer gesagt habe ich das ja schon vor vielen Monaten getan, aber nun bin ich eben auch dem Freund-von-Mama-Mama-Kind-Modell entwachsen. Ich möchte zurück in eine WG, aus ganzem Herzen.
In eine Erwachsenen-WG, wenn man so will, mit viel Meinung, Charakter, Charme und Melone. Mit spontanen Wein getränkten Nächten für die Großen und Spielgefährten für die Kleinen, mit Ausflügen an die Ostsee und mediterranen Kochduellen. Das hat, entgegen aller Vorurteile, wenig mit dem viel diskutierten Nicht-allein-sein-können zu tun, das kann ich durchaus prima, bloß bin ich mittlerweile der Meinung, dass ich besser darin bin, wenn ich dafür nicht viel mehr tun muss als meine Zimmertür zu schließen. Für die Vorstellung, trotz akuter Ausgeh-Faulheit konstant sozial zu sein, weil ja ohnehin fast immer jemand nebenan, auf dem Balkon oder in der Lebens-Mittelpunkt-Küche verweilt, nehme ich Ordnungs-Fanatin sogar geklaute Straciatella-Joghurtbecher und Zahnpastaspritzer auf Badezimmerspiegeln in Kauf. Ich teile gerne mein Gemüse und auch das Sofa, wenn ich damit dem Optimierungswahn schneeweißer vier Wände entkommen kann und dem Prestige-begründeten Geldverbrennen für noch mehr Quadtratmeter. Ich koche auch gerne heiße Milch mit Honig wenn jemand krank ist, immerzu, und verlange dafür rein gar nichts außer einen glücklichen Mitbewohner. Oder eine Mitbewohnerin, die mir ein Bild zum Geburtstag malt, statt sich bei HAY auszutoben. Ich mag es, permanent an meinem Partner zu kleben, brauche aber gleichzeitig geistigen Ausgleich, wenn möglich eben auch am Frühstückstisch. Gegen Mau Mau Schweitzer Regeln habe ich nach Feierabend auch nichts einzuwenden. Zurück zur Großfamilie also, jedenfalls fast. Ein eigenes Kind reicht mir ja bekanntlich (vorerst). Ganz so familiär bin ich dann nämlich doch nicht. Aber eingeschränkt und eingerostet von zu viel Alltag. Zu viel Konsum. Zu viel Viel.
Ich frage mich tatsächlich immer wieder, wie ihr womöglich auch, wie sich das, was schon immer in mir schlummert, das Zufriedenseinwollen ohne viel Besitz, mit alldem hier überhaupt verbinden lässt. Kommt einem ja vor wie ein schlechter Scherz. Dreißig Paar Schuhe, aber kein Bock mehr auf Juppiesein. Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich das hier liebe und auch jede einzelne Leopardenschlappe in meinem Schrank. Manches möchte ich aber anders machen als gedacht, geplant oder erwartet, bloß ohne Erwartungen, dafür mit Optimismus im Umzugskarton. Denn vielleicht häkle ich irgendwann feiste Katheter-Säckchen mit meinen Rentner-Mitbewohnern, oder auch den jungen, die mit der Zeit dazu gestoßen sind. Gut möglich auch, dass Lio schon bald für mehr Privatsphäre plädiert und ein ernstes Wörtchen mit mir redet. Oder mein Freund. Wenn ich bis dahin nicht schon längst das eigene Handtuch geworfen habe. All diese Eventualitäten jagen mir keine Furcht ein, ganz im Gegenteil, sie machen mich neugierig. Rein da, ins Leben. Es heißt doch, die Welt sei voller Möglichkeiten. Aber in der persönlichen Erfahrung, schrumpfen sie auf eine verschwindend geringe Anzahl zusammen¹. Also ran an die, die uns noch bleiben.
¹David Herbert Lawrence.