Ich war jetzt sehr lange sehr verliebt in den Heiligenschein der Harmonie. Immer um Diplomatie bemüht, stets freundlich und bescheiden, manchmal sogar unsichtbar, jemand, der eher schweigt als zu streiten und rot anläuft, sobald andere gemein werden. Also jedenfalls grob zusammengefasst, so als Freundin, Partnerin, Ex, Bekannte oder Unbekannte. Beim motzigen Inder etwa entschuldige ich mich seit mittlerweile drei Jahren dafür, im Dachgeschoss zu wohnen, er bekommt sogar Extra-Trinkgeld zum Sowieso-schon-Trinkgeld, wegen der Bonus-Treppen. Dabei hat er es in Wahrheit noch nie über die Belle Etage hinaus geschafft, wenn es klingelt, renne ich meinem Palak Paneer ohnehin entgegen, als sei der flammende Curry-Spinat mein persönlicher Sonnenuntergang. Herr Lieferservice hingegen schlendert tendenziell und bleibt manchmal sogar heimlich stehen um Stufen zu sparen. Ich merke das, aber schweige. Bloß anderen nicht zur Last fallen. Ist egal, dass der nie danke sagt. Ist auch egal, dass der Nachbar von unten nie grüßt, aber böse guckt und seine Frau ebenfalls schaut, als laste sämtliches Übel der Welt auf ihren Schultern. Vielleicht tut es das ja. Deshalb winke ich an guten Tagen ganz versöhnlich rüber. Es tat mir auch leid, als ich neulich einem Betrunkenem im Park im Weg herum lag, echt. Und richtig, was versuche ich auch mit einem 20 Euro Schein zwei fünfundzwanzig Cent Brötchen zu bezahlen, die es noch dazu überhaupt nicht gibt, weil „dit sind Schrippen!“. Tschuldigung, ich hätte es wirklich verdient gehabt, in meiner Dekadenz zu ersaufen.
Jetzt ist es aber nunmal so, dass das immanente Höflichkeits-Töpfchen irgendwann auch echt mal voll ist. Es fing also an, in mir zu brodeln. Und wie es brodelte.
Sowas muss passieren, wenn Befindlichkeiten wie Missmut, Wut und Zorn, Zermürbtheit, Unverständnis, Enttäuschung oder impulsive Anflüge von leichter Feindseligkeit nicht unverblümt ausgespuckt, sondern wiedergekäut und runtergeschluckt und auf heißester Flamme weiter gekocht werden, immerzu. Diesen Zustand innerer Erregtheit im asexuellsten aller Sinne sieht man mir jedenfalls seit Neuestem unweigerlich an einem Bohnen-förmigen Fleck neben der Nase an, meinem rotwarmen Wutfleck, der als Seismograph meiner psychischen Konstitution funktioniert. Muss ein körpereigener Schutzmechanismus sein, eine Aufforderung zum Handeln. Vor ein paar Wochen hatte ich das Gefühl, mir würde aufgrund desselbigen jetzt schlussendlich das Gesicht explodieren. Infolgedessen beschloss ich, endlich eine gemeine Mistkuh zu werden. Zumindest temporär. Mir selbst zuliebe. Denn Zweitausendlovezehn als Lebensmotto klingt zwar hoffnungsvoll, aber was bringt einem das Dasein als Butterblume, wenn ringsherum nur dornige Rosen stehen. Man endet zerkratzt und vernarbt. Zeit für Zweitausenfickzehn.
Es ist selbstverständlich nicht erstrebenswert, ein mies gelauntes egoistisches Schattengewächs zu werden oder gar eine schlechte Person und böse, darum geht es nicht. Sondern um den menschlichsten aller Makel: Die Fähigkeit zur Gefühlsbildung, die zuweilen Schwächlinge aus uns macht. Nicht, weil wir fühlen, sondern weil wir dieses Fühlen so selten zeigen, wegen der Feigheit. Der Sorge, anderen auf den Schlips zu treten, der Gefälligkeit. Eine unfreundliche Brötchenverkäuferin ist das Eine, das Kleine, das Nichtige. Soll sie pöbeln. Aber Leute, die ständig in Deckung gehen, wie ich bisweilen, neigen auch im engsten Kreis zum Jasagen, selbst dann, wenn die eigenen Energie-Ressourcen längst auf Reserve laufen. Das ist zwar gut gemeint, aber auf Dauer überaus ungesund. So werden aus Liebsten Blutegel, die dich leer saugen. Aus Verabredungen Termine mit Muss-Faktor. Und aus der einstigen Leichtigkeit ein schwerer Druck auf der Brust. Schon ein kurzweiliger Ausstieg aus dem Harmonie-Business kann deshalb Balsam für die Seele sein, das weiß ich jetzt, und auch dass ein gutmütiger Charakter glücklicherweise ein gutmütiger Charakter bleibt, daran ändern auch kleine bis mittelgroße Aussetzer nichts.
Vor ein paar Wochen hatte ich so einen wohltuenden Aussetzer, ich mutierte zur krassesten Mistkuh von allen. Inklusive in-den-Hörer-Brüllen und neue-Liebeleien-von-Verflossenen-beschimpfen. Ich war dumm und oberflächlich und unfair, eine Löwenmutter, Ex-Monster und unerträglich. Aber ich war in dem Moment ich. Nicht nett, aber echt und zum ersten Mal ehrlich. Befreiend war das und klärend und nötig. Am nächsten Morgen klingelte mein Telefon, Spontanbesuch aus der Heimat kündigte sich an. Ich sagte erstmals nein zum Trippel-Schlafplatz und fühlte mich mies, aber die Vorstellung, das sechste Wochenende in Folge keine Sekunde Ruhe oder Privatsphäre abzubekommen, fühlte sich noch mieser an. Man war mir nicht böse, kein Stück. Man hatte sogar Verständnis. Und wäre dem nicht so gewesen, ich hätte es nicht anders gemacht, nein, nicht anders machen können. Ohne Sonntagsruhe wäre mir selbst ein Spontanbesuch in der Klapse sicher gewesen, daran besteht kein Zweifel. Dann, wieder beim beeindruckend barschen Bäcker und noch ganz euphorisiert von der neuen Superkraft, hatte ich die Schnauze plötzlich voll. Man könne sowas wie Wechselgeld kaufen, dafür gebe es Banken, ätzte ich zurück, und außerdem wäre ich die schlechte Laune in diesem Laden jetzt wirklich ein für allemal satt, was denn eigentlich das scheiß Problem hier sei. Ich wurde nicht rausgeschmissen. Ich wurde nur schräg angeschaut, mit einem kessen Zucken in der Unterlippe, fast ein Lächeln war das, endlich als Kundin akzeptiert und fortan höflich bedient. Es kann so einfach sein.
Eine gewagte These, ich weiß, aber gut möglich, dass ein bisschen wohl dosiertes Arschlochsein es vermag, die Welt hin und wieder zu einer besseren zu machen. Jedenfalls die eigene. Und auch wenn wir es zuweilen nicht wahrhaben wollen, denn Egoismus gilt keinesfalls als salonfähig, das Glück fängt damals wie heute meist irgendwo in uns selbst an. Wir sollten also ganz dringend damit anfangen, uns endlich wieder mehr um uns selbst statt um die Meinung anderer zu kümmern.Dann kommt die Harmonie sowieso von ganz von allein. Und das Palak Paneer vielleicht auch mal bis ins Dachgeschoss.