Von der Silvesternacht 2015/2016 bis zu Trumps Triumph: Das Jahr 2016 – feministisch betrachtet.
Was für ein Jahr – kaum ein Tag, an dem sich beim Blick auf die Nachrichten nicht kurz der Bauch verknotete, an dem nichts Dramatisches passierte. 2016 ist viel passiert, national und international, im Kleinen und im Großen. Es gab definitiv mehr Downs als Ups, mehr Fassungslosigkeit als Freude: Der Anschlag in Berlin dürfte für viele in Deutschland nur der traurige „Höhepunkt“ eines ohnehin schon miesen Jahres gewesen sein. Aber ein paar Dinge gab es eben trotzdem – Dinge, die einen doch nicht den Glauben an die Menschheit verlieren ließen. Gilt das auch beim Thema Gleichberechtigung? Hier sind sieben markante Ereignisse aus zwölf Monaten.
Die Silvesternacht 2015/2016
In mehreren deutschen Städten kommt es in der Silvesternacht zu Übergriffen – Frauen werden ausgeraubt, beleidigt, sexuell belästigt und genötigt. Die Tatverdächtigen: überwiegend Flüchtlinge aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum. Es folgt eine riesige Debatte über das Ende der deutschen Willkommenskultur und die Gefahren, denen deutsche Frauen nun angeblich ausgesetzt sind. Schwuppdiwupp war sexualisierte Gewalt plötzlich ein Riesenthema und so manch einer, der sich vorher eher durch eine Mir-doch-egal-Haltung oder simples Leugnung von ebensolcher Gewalt hervorgetan hatte, schwang sich nun zum Retter der Frauen auf und rief am lautesten nach einem strengeren Sexualstrafrecht. Als ob sexualisierte Gewalt in Deutschland nur dann ein Problem sei, wenn sie von „außen“ kommt.
„Aufschrei“ in der französischen Politik
„Wir werden nicht mehr schweigen“, verkünden 17 französische Politikerinnen in einem im Mai veröffentlichten Appell. In Zukunft, so ehemalige Ministerinnen der Sozialisten, Grünen und Konservativen, würden sie männliches Fehlverhalten künftig offensiv anprangern. Zuvor hatte die Sprecherin der französischen Grünen, Sandrine Rousseau, öffentlich Denis Baupin, Vizepräsident der französischen Nationalversammlung, angeklagt: Er habe sie bei einem Parteitreffen 2011 sexuell belästigt haben. Ein Kollege, dem sie den Vorfall schilderte, habe nur mit „Ah, hat er wieder damit angefangen?“ reagiert. Baupin wehrte sich gegen die Vorwürfe, trat aber zurück. Von anderen Politiker*innen und Aktivist*innen bekam Rousseau Unterstützung, zahlreiche Kolleginnen bestätigten sexuelle Übergriffe und Sexismus in der französischen Politik. „Aufschrei“ à la française.
Amoklauf im Pulse
Am 12. Juni werden bei einem Amoklauf im Pulse-Club in Orlando (Florida) 49 Menschen getötet und 53 verletzt. Der Nachtclub wird überwiegend von LGBTQ besucht, ein Verbrechen aus Hass gilt nicht als ausgeschlossen. Die Menschen, die in den frühen Morgenstunden des 12. Juni starben, waren Menschen, die einfach eine gute Zeit haben wollten. Die unter ihresgleichen sein wollten, tanzen, trinken, knutschen. Der Täter, Omar Mateen, soll mit dem sogenannten „Islamischen Staat“ sympathisiert haben – er wurde vom Orlando Police Department erschossen. 49 Menschenleben, einfach ausgelöscht. Es ist der gravierendste einzelne Gewaltakt gegen Homosexuelle in der Geschichte der USA.
Reform des deutschen Sexualstrafrechts
Schon 2015 hatte Justizminister Heiko Maas (SPD) angekündigt, das Sexualstrafrecht – d.h. Paragraf 177 des Strafgesetzbuches (Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) – reformieren zu wollen. 2016 kam die Debatte darüber dann durch die Ereignisse der Silvesternacht noch einmal richtig in Fahrt: Am 7. Juli verabschiedete der Bundestag die Reform, im September stimmte auch der Bundesrat zu. Der Grundsatz lautet nun „Nein heißt nein“ – strafbar macht sich nun nicht mehr nur, wer den Geschlechtsverkehr mit Gewalt oder Gewaltandrohung (also durch Nötigung) erzwingt, sondern auch, wer sich über den „erkennbaren Willen“ des Opfers hinwegsetzt. Die Voraussetzungen für eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung wurden also verringert.
Prozess gegen Gina-Lisa Lohfink
Vergewaltigung oder einvernehmlicher Sex? Darum geht es im Prozess gegen Gina-Lisa Lohfink. Im Juni 2012, sagt sie, wurde sie von zwei Männern vergewaltigt. Es gibt Handy-Videos von dieser Nacht, die die beiden Männer ins Internet stellten. Der Sex, sagen sie, war einvernehmlich. Lohfink erstattete Anzeige, den Prozess verlor sie aber. Die beiden Männer wurden vom Vorwurf der sexuellen Nötigung freigesprochen, aber wegen der Verbreitung der Videos zu einer Geldstrafe verurteilt. Lohfink sollte wegen falscher Verdächtigungen eine Geldstrafe zahlen, das tat sie aber nicht. Nun, 2016, steht Lohfink deshalb wieder vor Gericht. Der Vorwurf: Falschaussage. Sie soll die beiden Männer zu Unrecht beschuldigt haben, sie mit K.-o.-Tropfen betäubt zu haben. Auch diesen Prozess verliert Lohfink, sie wird im August zu einer Geldstrafe verurteilt. Ob schuldig oder nicht: Es ist vor allem der Umgang mit dem potenziellen Vergewaltigungs-Opfer Gina-Lisa, der zu Protesten führt. Immer wieder wird in den Medien auf die knappen Klamotten, die operierten Brüste von Lohfink hingewiesen, auf ihr Image als „Luder“. So, als sei sie an ihrer – nicht bewiesenen – Vergewaltigung sogar selbst schuld. Es ist ein nur allzu bekanntes Muster, wenn es um sexualisierte Gewalt geht und deshalb steht der Gina-Lisa-Prozess für so viel mehr als nur für sich selbst: Es geht um den grundsätzlichen Umgang mit Vergewaltigungsopfern, um rape culture, darum, wie wir über sexualisiert Gewalt reden.
Theresa Mays Schuhe
Theresa May ist die neue englische Premierministerin – immerhin die erste Regierungschefin seit Margaret Thatcher. Und alles, was die englischen Medien zunächst interessierte, war: Sind Mays Leoparden-Schuhe zu gewagt? Ist ihr Ausschnitt zu tief? Inwiefern sehen May und Angel Merkel sich ähnlich? Selbst Spiegel Online war sich nicht zu blöd, bei dieser Diskussion mitzumachen; auch wenn der entsprechende Artikel sich durch einen satirischen Einstieg tarnte – ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass es im ersten Drittels des Artikels nur um Theresa Mays Aussehen geht. Brexit, Schottlands Unabhängigkeitsbestrebungen, die Krise der Tories und der Labour-Partei? Nicht halb so spannend wie Mays Frisur. Ach, wie schön wäre es, ginge es bei Politikerinnen wirklich um die Politik, die sie machen.
„Schwarzer Protest“ in Polen
Das hatte sich die polnische Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) irgendwie anders vorgestellt: Flugs sollte ein neues, restriktives Abtreibungsgesetz verabschiedet werden. Abtreibungen, in Polen sowieso nur in drei Fällen erlaubt, wären dann komplett illegal gewesen. Die PiS hatte aber nicht mit der Widerstandkraft der polnischen Frauen gerechnet. Die gehen im Oktober zu Tausenden auf die Straße, protestieren, sind laut – sie haben endgültig die Nase voll von einer Regierung, die seit der Wahl 2015 alle demokratischen und liberalen Fortschritte der letzte Jahre Stück für Stück zunichte macht. Pol*innen kleiden sich ganz in Schwarz, der Hashtag #CzarnyProtest (schwarzer Protest) trendet in den sozialen Medien. Am Ende bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als zurückzurudern. Eine Verschärfung des Abtreibungsrechts wird es nicht geben. Ein großer Erfolg für die sturen Pol*innen – der Status quo bleibt jedoch unbefriedigend.
Trump wird zum US-Präsidenten gewählt
Donald Trump wird zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt – auch Wochen nach der Wahl am 8. November klingt dieser Satz nach einem schlechten Scherz. Ist er aber nicht. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton hat gegen einen sexistischen, rassistischen, homophoben und politisch völlig unerfahrenen Mann verloren. Erst im Januar 2017 wird Trump sein Amt offiziell antreten, bis dahin stellt er sein Regierungsteam zusammen. Darin zu finden: Jede Menge Mikes, aber kaum Frauen oder Vertreter*innen von Minderheiten. Make America great again!
Was sonst noch geschah:
Die italienische Region Lombardei führt das sogenannte „Anti-Gender-Telefon“ (Telefono anti-gender) ein: Dieses soll besorgten Eltern sowie Schüler*innen Hilfestellung bieten im Kampf gegen die sich angeblich rasend verbreitende „Gendertheorie“ an italienischen Schulen. Die 30.000 Euro teure Hotline befindet sich noch in der Testphase.
Das „weibliche“ Remake von Ghostbusters sorgt bei so manchem Troll für Schnappatmung – die Apokalypse scheint kurz bevor zu stehen.
Keine einzige Frau erhält in diesem Jahr den Nobelpreis. Das ist angesichts des Dramas um Literaturnobelpreis-Träger Bob Dylan etwas in den Hintergrund geraten.
Kann Konsum feministisch sein? Marken wie H&M und Monki wollten uns das 2016 jedenfalls glauben machen.
Die Schwestern Knowles veröffentlichen Alben, die den popkulturellen Diskurs des Jahres prägen: Beyoncés Lemonade und Solanges A Seat at the Table sind gesellschaftlicher Kommentar und Meditation darüber, was es 2016 bedeutet, als schwarze Frau in den USA zu leben.
Mit ihrem Essay für das Newsletter-Projekt Lenny Letter hatte Alicia Keys sich Ende Mai in die Herzen sämtlicher Frauen geschrieben. Die Musikerin entledigte sich damals pünktlich zur neuen Singleauskopplung „In Common“ ganz öffentlich jeglicher Schminke, selbst auf dem dazugehörigen Plattencover war und ist kein Gramm Puder zu erkennen: „I swear it is the strongest, most empowered, most free, and most honestly beautiful that I have ever felt“, kommentierte Keys später ihre Entscheidung, aus der als logische Konsequenz recht bald die #NoMakeUp Bewegung entsprang.
Die Jura-Studentin Jenna Behrends hat sich in einem offenen Brief an ihre Partei, die CDU, gewandt. Es geht in ihren Zeilen vor allem um reellen Sexismus innerhalb der eigenen Reihen. Behrends ist es satt, von Kollegen als „süße große Maus“ geneckt zu werden. Auch will sie sich als erfolgreiche Quereinsteigerin keine weiteren (nackten) Spekulationen mehr über ihren Erfolg anhören müssen. Und noch weniger akzeptieren, dass die „Frauenquote“ aus überaus fadenscheinigen Gründen noch nicht einmal Partei-intern funktioniert.
Das Magazin Glamour kürt U2-Sänger Bono zur „Woman of the Year“ – gab wahrscheinlich zu wenig Frauen, aus denen man wählen konnte.
Im September zeigt die Trennung von Brangelina einmal mehr das traurige Frauenbild der Boulveradpresse auf.
Im Oktober wird Wonder Woman zur Ehrenbotschafterin der Vereinten Nationen erklärt, um weltweit Mädchen und Frauen zu empowern. Im Dezember ist WW ihren Job dann auch schon wieder los: Zahlreichen UN-Mitarbeiter*innen fällt plötzlich auf, dass Wonder Woman sowohl fiktional als auch sexy gekleidet und unrealistisch proportioniert ist. Surprise!
Mit ihrem Song „Verdammte Schei*e“ hat die Komikerin Giulia Becker den Feminismus Anfang Dezember mit einer Portion Lässigkeit beglückt und obendrein ganz nonchalant eine neue Bewegung gegen Benachteiligung ins Leben gerufen: „Wenn ihr mit mir seid, dann schwingt jetzt eure Scheide“, singt sie.
Auch die Band Jennifer Rostock hat einen song veröffentlicht, in dem es um Sexismus und Diskriminierung geht: „Hengstin“ – die Reaktionen einiger Medien zeigten beispielhaft, warum das Thema eben kein „kalter Kaffee“ ist.
Und ja. Feministin sein ist auch im Jahr 2016 noch immer verdammt hart.