Ich schlafe zu wenig, meine Ernährung setzt sich vor allem aus Kohlenhydraten und „mit Käse überbacken“ zusammen, weil ich selten Brille trage, kneife ich beide Augen permanent wie ein kleines Schweinchen zusammen, was sich wiederum unübersehbar negativ auf meine tiefer werdenden Stirnfalten auswirkt. Die Nagellackreste auf beiden dicken Zehen stammen aus dem vergangenen Sommer, mein Emailfach spuckt aktuell die ungeheure Zahl von 10176 ungelesenen Nachrichten aus, ich habe nichts zum Anziehen und wenig Lust, auszugehen. Manchmal rauche ich auch, obwohl ich längst Nichtraucherin sein wollte und sollte, anonyme Anrufe beantworte ich nur aus Versehen und obwohl ich 50 Euro im Monat für die Mitgliedschaft in einer sportlichen Vereinigung bleche, habe ich längst vergessen, wie meine Yogalehrerin überhaupt nochmal heißt. Ganz abgesehen davon, dass meine Laufschuhe seit einem guten Monat hinterm Staubsaugern in der Abstellkammer von Spinnweben gesäumt werden.
Das alles fiel mir aber erst neulich auf, einen ganzen Monat später als den meisten anderen Menschen also, die sich vornehmlich um die Jahreswende herum in Selbstreflexion üben. Und zwar als ich mutterseelenallein auf einer Hütte in den Tiroler Bergen saß. Aus Trotz. Ich wollte lieber zum fünften Mal hintereinander die sichere Abfahrt nehmen als mit dem Rest der über die Maße motivierten Gesellschaft über Buckelpisten der blauen Stunde entgegen zu brettern und außerdem war ich gerade dabei, noch ein wenig in Selbstmitleid ersaufen. Und Leute zu hassen. Und mich selbst. Weil sich die Existenz auf diesem Erdball samt all ihrer physischen wie psychischen Begrenzungen plötzlich wie mein persönliches Alcatraz anfühlte. Was allerdings alle Gefängnisse gemein haben: Wir sind selbst schuld daran, wenn wir drin sitzen.
Mir blieb also nichts anderes übrig als vor ebenjener Erkenntnis zu kapitulieren und mir ein paar gute Vorsätze zu überlegen, obwohl ich Vorsätze überhaupt nicht mag. Meist gedeihen sie ja aus Hoffnung, bis sie plötzlich vergessen und welk werden und schließlich als verrunzelter toter Humus von gestern im Erdboden versinken. Aber als ich da so saß, gefangen in mir selbst und den blauen Himmel vor allem deshalb verschmähend, weil er bei uns in Berlin höchstens hellgrau erstrahlt, und obendrein sauer, weil mir meine Abhängigkeit von Wlan und urbaner Zivilisation im Angesicht der unbekümmerten Abenteuerlust der anderen mehr denn je bewusst wurde, ahnte ich, dass da was schief läuft in meinem Gehirn. Da half auch der Patagonia Pullover nicht, der mich zuvor hatte hoffen lassen, ich könne mir mit ihm ganz automatisch die dazugehörige Geisteshaltung überstülpen. Als ich die anderen etwas später im Sessellift über mich hinweg schaukeln sah, zückte ich mein Notizbuch und bestellte zum ersten Mal an diesem Tag keinen Almdudler, sondern einen Cappuccino. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich atmete Innsbruck ein und all meinen Gram aus. Dann fing ich an zu schreiben, nämlich all das hier. Bis ich am Ende begriff, dass mein guter Vorsatz für 2017 vor allem aus drei kurzen Wörtern besteht: Einfach ich sein. Bloß mit ein wenig mehr Schwung. Und aus Achtung vor meinen eigenen Bedürfnissen.
Es ist nämlich ok, die Stadt lieber zu mögen, als das Land. Aber erst wenn man das akzeptiert, klappt die Sache mit dem heilenden Ausflug in eine andere Welt und auch das Genießen. Andernfalls scheitert man bloß kläglich und schmerzlich daran, jemand ganz anderes sein zu wollen. Das kann nunmal nicht klappen. Es ist auch ok, Angst zu haben, vor Buckelpisten etwa. Es ist ok, auszusteigen, sich Zeit für sich allein zu nehmen, während andere dem Ruf der Wildnis folgen, den man gerade irgendwie nicht hören kann. Man kann nichts erzwingen. Und morgen ist ja ein neuer Tag. Es ist ok, selbstgemachten Salat und Sport zu meiden. Aber der Grund für beides darf nicht Faulheit sein. Sonst ärgert man sich bloß wieder über die schnellen Fritten im Bauch. Es ist sogar ok, das Internet zu brauchen. Aber nicht, aus dem Gefühl heraus, sich abzulenken zu müssen. Davon, dass man schon wieder nicht aus sich raus gekommen ist etwa. Denn um aus sich rauszukommen muss man zuerst einmal in sich selbst ruhen. Hat man das gelernt, kommt der Rest von ganz allein.