Kolumne //Warum ich Vorsätze nicht mag und trotzdem welche habe.

31.01.2017 Allgemein

changes

Ich schlafe zu wenig, meine Ernährung setzt sich vor allem aus Kohlenhydraten und „mit Käse überbacken“ zusammen, weil ich selten Brille trage, kneife ich beide Augen permanent wie ein kleines Schweinchen zusammen, was sich wiederum unübersehbar negativ auf meine tiefer werdenden Stirnfalten auswirkt. Die Nagellackreste auf beiden dicken Zehen stammen aus dem vergangenen Sommer, mein Emailfach spuckt aktuell die ungeheure Zahl von 10176 ungelesenen Nachrichten aus, ich habe nichts zum Anziehen und wenig Lust, auszugehen. Manchmal rauche ich auch, obwohl ich längst Nichtraucherin sein wollte und sollte, anonyme Anrufe beantworte ich nur aus Versehen und obwohl ich 50 Euro im Monat für die Mitgliedschaft in einer sportlichen Vereinigung bleche, habe ich längst vergessen, wie meine Yogalehrerin überhaupt nochmal heißt. Ganz abgesehen davon, dass meine Laufschuhe seit einem guten Monat hinterm Staubsaugern in der Abstellkammer von Spinnweben gesäumt werden.

Das alles fiel mir aber erst neulich auf, einen ganzen Monat später als den meisten anderen Menschen also, die sich vornehmlich um die Jahreswende herum in Selbstreflexion üben. Und zwar als ich mutterseelenallein auf einer Hütte in den Tiroler Bergen saß. Aus Trotz. Ich wollte lieber zum fünften Mal hintereinander die sichere Abfahrt nehmen als mit dem Rest der über die Maße motivierten Gesellschaft über Buckelpisten der blauen Stunde entgegen zu brettern und außerdem war ich gerade dabei, noch ein wenig in Selbstmitleid ersaufen. Und Leute zu hassen. Und mich selbst. Weil sich die Existenz auf diesem Erdball samt all ihrer physischen wie psychischen Begrenzungen plötzlich wie mein persönliches Alcatraz anfühlte. Was allerdings alle Gefängnisse gemein haben: Wir sind selbst schuld daran, wenn wir drin sitzen.

innsbruck

Mir blieb also nichts anderes übrig als vor ebenjener Erkenntnis zu kapitulieren und mir ein paar gute Vorsätze zu überlegen, obwohl ich Vorsätze überhaupt nicht mag. Meist gedeihen sie ja aus Hoffnung, bis sie plötzlich vergessen und welk werden und schließlich als verrunzelter toter Humus von gestern im Erdboden versinken. Aber als ich da so saß, gefangen in mir selbst und den blauen Himmel vor allem deshalb verschmähend, weil er bei uns in Berlin höchstens hellgrau erstrahlt, und obendrein sauer, weil mir meine Abhängigkeit von Wlan und urbaner Zivilisation im Angesicht der unbekümmerten Abenteuerlust der anderen mehr denn je bewusst wurde, ahnte ich, dass da was schief läuft in meinem Gehirn. Da half auch der Patagonia Pullover nicht, der mich zuvor hatte hoffen lassen, ich könne mir mit ihm ganz automatisch die dazugehörige Geisteshaltung überstülpen. Als ich die anderen etwas später im Sessellift über mich hinweg schaukeln sah, zückte ich mein Notizbuch und bestellte zum ersten Mal an diesem Tag keinen Almdudler, sondern einen Cappuccino. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich atmete Innsbruck ein und all meinen Gram aus. Dann fing ich an zu schreiben, nämlich all das hier. Bis ich am Ende begriff, dass mein guter Vorsatz für 2017 vor allem aus drei kurzen Wörtern besteht: Einfach ich sein. Bloß mit ein wenig mehr Schwung. Und aus Achtung vor meinen eigenen Bedürfnissen.

Es ist nämlich ok, die Stadt lieber zu mögen, als das Land. Aber erst wenn man das akzeptiert, klappt die Sache mit dem heilenden Ausflug in eine andere Welt und auch das Genießen. Andernfalls scheitert man bloß kläglich und schmerzlich daran, jemand ganz anderes sein zu wollen. Das kann nunmal nicht klappen. Es ist auch ok, Angst zu haben, vor Buckelpisten etwa. Es ist ok, auszusteigen, sich Zeit für sich allein zu nehmen, während andere dem Ruf der Wildnis folgen, den man gerade irgendwie nicht hören kann. Man kann nichts erzwingen. Und morgen ist ja ein neuer Tag. Es ist ok, selbstgemachten Salat und Sport zu meiden. Aber der Grund für beides darf nicht Faulheit sein. Sonst ärgert man sich bloß wieder über die schnellen Fritten im Bauch. Es ist sogar ok, das Internet zu brauchen. Aber nicht, aus dem Gefühl heraus, sich abzulenken zu müssen. Davon, dass man schon wieder nicht aus sich raus gekommen ist etwa. Denn um aus sich rauszukommen muss man zuerst einmal in sich selbst ruhen. Hat man das gelernt, kommt der Rest von ganz allein.

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23 Kommentare

  1. Sarah

    Mega schön, weil es so ehrlich ist. Nike, ich glaub, ich hab schon zwei mal nachgefragt, ich frage ein drittes Mal: mich persönlich würde Deine Erfahrung zum Zigarettenverzicht interessieren. Vielleicht hast Du ja mal Bock genauer drüber zu schreiben?

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  2. Sophia

    schöne wahre worte.
    und ein mehr ‚einfach ich sein‘ nehme ich auch gerne mit. trotzdem brauche ich oft einen tritt oder immer (wie beim sport, ernährung und verreisen).

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  3. Lara

    Liebe Nike,
    schöner Text! Und sehr wahr!
    Mich würde es auch wahnsinnig interessieren, wie du als Neu-Nichtraucherin klar kommst bzw. wie du es schaffst, zwischendrin hin und wieder zu rauchen, ohne wieder richtig anzufangen etc…!

    Liebe Grüße,

    Lara

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  4. Sabine

    Ja das mit dem Rauchen würde mich auch interessieren. Habe vor vier Monaten nach langer Zeit aufgehört und würde leider immer noch gerne ab und zu mal eine rauchen:)

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    1. Julia

      Ich rauche seit 8 Jahren nicht mehr aber das Gefühl hin und wieder mal eine rauchen zu wollen hört nie auf, sorry…

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  5. Flo

    Oh, wie gut ich dieses Gefuehl kenne… Ich mag da gerade mich selbst hineininterpretieren in deine Worte, aber dieses Gefuehl, selbstmitleidig am Rande zu sitzen, hin- und hergerissen zwischen man selbst sein und eigentlich auch jemand anderes sein wollen… Ich glaube nicht dass das unbedingt nur damit zu loesen ist, bei sich selbst anzukommen und sich zu akzeptieren. Denn dieses Ziehen im Bauch, weil man manchmal doch auch jemand anderes und gleichzeitig trotzig man selbst sein moechte, das ist doch nicht unbedingt etwas Schlechtes. Ich sehe es als Ping Pong, mal bin ich im Reinen mit mir, mal funkt mir etwas dazwischen, was entweder Irritation, aber auch Motivation und Inspiration sein kann 🙂

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    1. Anne

      Den Ansatz finde ich total gut! Ein Flirt mit einem anderen Ich muss auch mal drin sein Schließlich , wenn wir mal ehrlich sind , ist dieses ominöse „ICH“ auch nicht in Stein gemeißelt – sondern schwingt mit

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  6. Anne

    Wunderbarer Text!
    Er erinnert mich selbst daran, mehr ICH zu sein.
    Ich will keinem Ideal oder sonst etwas hinterher rennen, aber oft vergessen ich das im ganzen Tran des Alltags.
    Ich bin froh, dass ich so bin wie ich bin.
    Ich sollte nur häufiger ICH sein!:)

    Liebste Grüße
    Anne

    https://einfachanne.wordpress.com/

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  7. ClaudiA

    Aus Achtung vor meinen eigenen Bedürfnissen! Danke für den Satz, den nehme ich mir jetzt auch zum guten Vorsatz und auch ruhig zur Verteidigung vor mir selbst und anderen. 2017 ich sein! Danke Nike, für den inspirierenden Text.

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  8. Lara

    Weil hier gerade so viele ihre Wünsche äußern: Vielleicht magst du mal über deine Familiensituation schreiben bzw. über Erfahrungen – vielleicht ist das aber auch zu intim… könnte ich jedenfalls gut verstehen. Aber falls doch, würde es mich wirklich interessieren, wie du das alles so schaffst. Ich empfinde es als einzigen Hürdenlauf mit Kind und dem Papa und dem Neuen – irgend jemandem tritt man immer auf die Füße.

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  9. Nina

    Ich liebe liebe liebe deine wunderbar ehrlichen Gedanken, gehüllt in die schönsten Worte, immer wieder aufs Neue. <3

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  10. Anna

    Ich mag Deine ehrlichen, toll geschriebenen Texte wahnsinnig gerne. Und ja zu mehr Ehrlichkeit und auch ja zu mehr Sich-selbst-Verzeihen-und-nicht-so-streng-mit-sich-sein 🙂

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  11. hi.jennyhoffmann@gmail.com

    Süperb, Miss Nike. Ging mir ähnlich… Berlin und Innsbruck, ein echter Kontrast, da kommt man ins grübeln, aber auch so wunderschön, beide 🙂

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  12. Fine

    Schöner Text bis auf einen Fehler: nicht alle Menschen, die im Gefängnis sitzen, sind schuld daran. Man denke nur an die unzähligen politischen Gefangenen, die sich lediglich für mehr Demokratie und Freiheit einsetzten.

    Lg
    Fine

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  13. Pingback: Flashback Friday: December 2016 & January 2017 - ninosy.com

  14. Manu

    Zwar reichlich spät, aber so treffend geschrieben! Vor allem das mit den lackierten Zehen… momentan in meinen Socken ebenfalls der Fall und heute beim Sandalenkauf kläglich aufgeflogen. Bei mir sieht es jedoch genau anders herum aus: Ich wohne in den Bergen, halte jedoch nichts von Funktionskleidung (es sei denn, man treibt Sport). Früher war ich immer der Überzeugung, dass man sich seinem Umfeld auch kleidungstechnisch anpassen muss. Falsch, man muss sich selbst bleiben. Logischerweise stöckelt man nicht auf High Heels durch den Schnee, aber immer nur Gore Tex mit irgendwelchen Stirnbändern muss es auch nicht sein.
    Und alle, die nicht Ski fahren und den Tiefschnee meiden, mag man als Einheimische sowieso am liebsten.. denn wie sagt man so schön: No friends on a powder day.

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