Letzte Woche stand Christine Blasey Ford vor dem Justizausschuss des US-amerikanischen Senats. Sie hob ihre Hand zum Schwur und sagte dann unter Eid aus, dass Brett Kavanaugh 1982 versucht habe, sie zu vergewaltigen. Ford und Kavanaugh waren damals beide noch Teenager, heute ist sie Psychologie-Professorin und er Anwärter auf einen Sitz im Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Ford, das machte diese während der Anhörung deutlich, wollte nicht dort sein. Ihre Aussage begann sie mit den Worten: „Ich habe große Angst“. Ford wollte zunächst anonym bleiben, aus Sorge darüber, was sonst auf sie und ihre Familie zukommen würde. Ihre Sorge war berechtigt: Ganz Amerika blickt nun auf sie, diskutiert ihre Glaubwürdigkeit als mögliches Opfer, analysiert ihre Körpersprache, Frisur, Sprechweise.
Zwei Frauen, zwei Fälle
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Das Ganze erinnert an einen ähnlichen Fall von 1991: Damals warf die Juristin Anita Hill dem für einen Sitz im Supreme Court nominierten Clarence Thomas sexuelle Belästigung vor. Hill hatte 1981 in der Abteilung für Bürgerrechte im Bildungsministerium der Vereinigten Staaten gearbeitet, Thomas war ihr Abteilungsleiter – in dieser Zeit, so Hill, habe Clarence sie belästigt. Wie Christine Blasey Ford wollte Anita Hill zunächst anonym bleiben. Wie Christine Blasey Ford wurde Anita Hill dazu gezwungen, öffentlich auszusagen. Wie Christine Blasey Ford stand Anita Hill plötzlich im Zentrum des öffentlichen Interesses, wurde ihre Anhörung im Fernsehen übertragen. Wie Christine Blasey Ford trug Anita Hill ihre Anschuldigungen ruhig und würdevoll vor. Wie Christine Blasey Ford unterzog Anita Hill sich einem Lügendetektor-Test, der ihre Glaubwürdigkeit untermauerte. Clarence Thomas wurde trotz Hills Anschuldigungen zum Richter des Supreme Courts ernannt und es ist zu erwarten, dass Fords Anschuldigungen ebenfalls nicht ausreichen, um die Ernennung Brett Kavanaughs zu verhindern.
Zwei Fälle, die sich so ähnlich sind – und dann auch wieder nicht. Denn Christine Blasey Ford ist eine weiße, Anita Hill eine afroamerikanische Frau.
Christine Blasey Ford wurde vom republikanischen Senator Orrin Hatch, der bei ihrer Anhörung dabei war, als „attraktive und nette Person“ bezeichnet. Sie sei „angenehm“. Landesweit gingen Frauen für Ford auf die Straße, demonstrierten und verkündeten „We believe Christine Ford“, auf Twitter trendete der Hashtag #BelieveWomen. Die Solidarität mit Ford ist groß, steht diese Frau doch – wenn auch eher ungewollt – für die MeToo-Bewegung, ist sie der traurige Beweis dafür, dass sich trotz der seit Monaten geführten öffentlichen Diskussion für Frauen kaum etwas geändert hat. Noch immer wird ihnen grundsätzlich erst einmal nicht geglaubt, wenn sie von sexuellen Übergriffen berichten.
Anita Hill, die Verräterin
Anita Hill erfuhr keinen solchen öffentlichen Beistand, sie wurde nicht als „attraktive und nette Person“ gesehen. Das liegt natürlich daran, dass die frühen 1990er eine ganz andere Zeit waren als es 2018 ist – kein Twitter, kein #MeToo. Es liegt aber auch an der Tatsache, dass sie, eine afroamerikanische Frau, Clarence Thomas, einen afroamerikanischen Mann, der sexuellen Belästigung beschuldigte. Viele Afroamerikaner*innen sahen in Hill so etwas wie eine Verräterin, während der Justizausschuss sie sowohl wegen ihres Geschlechts als auch ihrer Hautfarbe für wenig glaubwürdig hielt. Hill sagte später in einem Interview: „Diese Kongressmitglieder hatten nie auch nur in Erwägung gezogen, dass wir schwarzen Frauen unsere eigene politische Stimme hatten. Sie nahmen an, dass schwarze Männer für uns sprachen. Dass eine afroamerikanische Frau ihre eigene politische Stimme hat und ihre eigene politische Position, und dass sie glaubt, dass unsere Perspektive der Konversation hinzugefügt werden sollte, war einfach etwas, was sie nie erwogen hatten.“
Kimberlé Williams Crenshaw, die als erste den Begriff Intersektionalität in einem feministischen Kontext benutzte, schrieb in ihrem Aufsatz Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics and Violence against Women of Color, Anita Hill sei „rhetorisch entmächtigt“ gewesen, weil sie zwischen die vorherrschenden Interpretationen von Feminismus und Antirassismus fiel: Der Anti-Rassismus würde Blackness „essenzialisieren“, der Feminismus hingegen Womanhood. Williams Crenshaw schreibt: „Die Erzählungen von gender basieren auf der Erfahrung von weißen Mittelklasse-Frauen, und die Erzählungen von race basieren auf den Erfahrungen schwarzer Männer.“ Man könnte also sagen: Anita Hill taugte nicht als feministische Heldin, weil sie schwarz ist, und nicht als Ikone des Anti-Rassismus, weil sie weiblich ist.
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Wem glauben wir?
Wenn heute Frauen verkünden, sie würden Christine Blasey Ford glauben („Believe Christine Ford“), dann meinen viele von ihnen, dass sie Frauen wie Ford glauben – weißen Frauen, Frauen, die aus der Mittelschicht stammen, Frauen, mit denen weiße Feminist*innen sich identifizieren können. Würden sie auch für eine Anita Hill auf die Straße gehen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
#MeToo ist deshalb auch eine Bewegung, die dafür kämpft, dass die Stimmen von Frauen, die Stimmen von Opfern sexualisierter Gewalt, gehört werden, dass man ihnen Glauben schenkt. Aber welche Stimmen werden tatsächlich gehört? Welchen schenken wir Glauben? Unsere Gesellschaft und ihre Institutionen sind nicht nur durch Sexismus geprägt, sondern auch durch Rassismus, Klassismus und andere -ismen. Frauen sind nicht automatisch auf die gleiche Weise von diesen -ismen betroffen, manche sind privilegierter als andere. Das bedeutet, dass Frauen nicht automatisch die gleichen Möglichkeiten haben, gehört zu werden, wenn sie ihre Stimme erheben, wenn sie ihre Geschichte erzählen.
Die blinden Flecken
Wenn wir Opfer von sexualisierter Gewalt wirklich unterstützen wollen, dann müssen wir uns selber fragen, welche Geschichten wir bereit sind zu hören. Welche Stimmen wir bereit sind zu verstärken. Welchen Opfern wir bereit sind zu glauben. Wir müssen uns nach unseren eigenen (oft unbewussten) Vorurteilen fragen, unseren Privilegien; danach, wo unsere blinden Flecken sind; danach, was wir besser machen können. Opfern zu glauben bedeutet, das unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder der wirtschaftlichen und sozialen Position des potentiellen Opfers zu tun. Es bedeutet zu vertrauen, auch in die Geschichten und Stimmen derjenigen, mit denen wir uns nicht persönlich identifizieren können. Es bedeutet Solidarität mit denjenigen, die nicht die gleichen Ressourcen und Möglichkeiten haben wie wir. Es bedeutet ein Interesse daran zu haben, die Strukturen, die sexualisierte Gewalt ermöglichen, auseinanderzubauen, sie zu zerlegen, abzureißen. Nicht nur für die Opfer, die so aussehen und sind wie wir selbst. Sondern für alle.