Mit Jessica Jones schickt Marvel die erste Superheldin in Serie. Heldenhaft ist an dieser trinkenden, zynischen und kaputten Frau aber kaum etwas – zum Glück!
„Ich suche nach dem Schlimmsten in Menschen“ sagt die grimmig-gelangweilte Stimme von Jessica Jones (Krysten Ritter) aus dem Off – und damit ist der Ton für Marvels neue Netflix-Serie, benannt nach ihrer Heldin, gesetzt. Jessica, das stellt sich schnell heraus, ist sehr talentiert darin, das Schlimmste in Menschen zu finden: Sie arbeitet als Privatdetektivin und einzige Angestellte ihres Unternehmens Alias Investigations in New York. Den Großteil ihrer Zeit verbringt Jessica damit, Fremdgängern mit der Kamera aufzulauern und sie beim heimlichen Stelldichein abzulichten. Erfüllende Arbeit sieht anders aus.
Allerdings scheint Arbeit Jessica sowieso nicht besonders zu interessieren. Sie schläft bis spät in den Tag hinein, steht auf Flüssignahrung in Form von Whisky und hat offensichtlich Probleme, ihre Aggressionen in den Griff zu bekommen. Wüsste man nicht, dass es sich um eine Marvel-Serie handelt und Jessica Jones eine Superheldin aus der Reihe Iron Man, Captain America und Co ist, man könnte Jessica Jones genauso gut für ein düsteres Neo-Noir-Drama halten. Eines von der Sorte, wo ein schlechtgelaunter, stets düster blickender und hart trinkender Privatdetektiv durch New Yorks Straßen zieht. Und jetzt: Achtung – Spoiler-Alarm!
Der persönliche Albtraum beginnt von neuem
Tatsächlich ist Jessica Jones viel mehr Neo-Noir-Drama und Thriller als typisches Marvel-Superhelden-Epos. Ja, Jessica hat Superkräfte – sie ist stark und kann sehr hoch springen (Jessica selbst nennt das sarkastisch „guided falling“). Aber diese stehen nicht im Mittelpunkt, schließlich hat Jessica – die einst mit den Avengers kämpfte – ihre Karriere als Superheldin an den Nagel gehängt. Als sie ihre Kräfte das erste Mal einsetzt und den hinteren Teil eines Autos hochhebt, kriegt man das als Zuschauer kaum mit. Im Gegensatz zu Marvels männlicher Superhelden-Crew verzichtet Jessica Jones auch darauf, lang und breit zu erklären, wie die Heldin zu ihren Kräften kam. Stattdessen wird das Thema in sparsam eingesetzten Rückblenden sowie in einem kurzen Dialog zwischen Jessica und Superhelden-Kumpel Luke Cage (Mike Colter) abgehandelt. Er: „Experiment“. Sie: „Unfall“. Alles klar.
Was lange im Dunkeln bleibt: Warum genau ist Jessica Jones so eine selbstzerstörerische, unausgeglichene Trinkerin? Die Gründe dafür liegen – Überraschung – in ihrer Vergangenheit. Jessica leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, hat Schlafprobleme, sagt mantrahaft verschiedene Straßennamen auf und fühlt sich von einem mysteriös-furchteinflößenden Mann verfolgt. Dieser Mann nennt sich Kilgrave (David Tennant) und auch er hat Superkräfte: Er kann das Bewusstsein und die Gedanken anderer kontrollieren. Jessica stand einige Zeit unter seiner Kontrolle, musste mit ihm zusammenleben – und auf sein Geheiß töten. Die schlechte Nachricht: Kilgrave ist nicht tot, wie Jessica geglaubt hatte, sondern quicklebendig. Und ihr persönlicher Albtraum beginnt von neuem.
Kontrollverlust und absolute Hilflosigkeit
„Schwierigen“ Frauen ein traumatisches Erlebnis meist sexueller Natur anzudichten, ist ein beliebter narrativer Kniff, um sie menschlicher zu machen. Black Widow wurde zwangssterilisiert (Avengers: Age of Ultron), Ärztin Charlotte überfallen und vergewaltigt (Private Practice) und selbst Über-Frau Lara Croft muss sich mit sexueller Belästigung herumschlagen (Tomb Raider, 2013). Jessica Jones widmet sich dem schwierigen Thema aber viel nuancierter als andere Popkultur-Produkte. Natürlich hat Kilgrave Jessica vergewaltigt – der Mann kann Gedanken kontrollieren und jeden gefügig machen! Dieser Kontrollverlust, die absolute Hilflosigkeit, hat Jessica tief traumatisiert und sie kämpft noch heute jeden Tag darum, ihre Selbstbestimmung, ihre Kontrolle zurückzugewinnen.
Zumindest in sexueller Hinsicht gelingt ihr das. Der leidenschaftliche, harte (und für Marvel-Verhältnisse endlich mal realistisch dargestellte) Sex mit Luke zeigt Jessica als selbstbewusste Frau, die sehr genau weiß, was sie will. Die Figur des Kilgrave, Albtraum jeder Frau und ein durch und durch fieser Mensch, nutzt Jessica Jones, um eine Superhelden-Geschichte zu erzählen, die aktuell und relevant ist: Als Jessica Kilgrave damit konfrontiert, dass er sie mehrfach vergewaltigt hat, wirkt dieser ehrlich verletzt: Woher solle er wissen, ob Menschen das, was sie in seiner Gegenwart tun, freiwillig tun? Er wüsste nie, ob er ihnen nicht aus Versehen einen Befehl gegeben hat. In seinen Erinnerungen wollte Jessica genauso gerne mit ihm schlafen wie er mit ihr. Im wahren Leben hat kein Mensch die Fähigkeit, die Gedanken anderer kontrollieren – wohl aber Probleme, in gewissen Situationen zu erkennen, was andere wirklich wollen: Wann liegt beim Sex Einverständnis vor? Wie kann man dieses gegenseitige Einverständnis sicherstellen? Kilgraves Aussage erinnert außerdem an die typische Verteidigung von Angeklagten, wenn es um Vergewaltigungs-Vorwürfe geht: „Sie hat es doch auch gewollt!“
Facettenreiche Frauen und „female gaze“
Auch andere Figuren tun alles dafür, Kontrolle (zurück) zu gewinnen. Jessicas Freundin und Stiefschwester Trish (Rachael Taylor) lernt ausgefeilte Kampftechniken, um sich selbst verteidigen zu können. Jessicas drogensüchtiger Nachbar Malcolm (Eka Darville) besucht eine Kilgrave-Selbsthilfegruppe, nachdem er selbst Opfer des Psychopathen wurde. Jessica Jones ist es nicht egal, was mit den Opfern nach ihrer Rettung geschieht. Die Serie nimmt sich sehr viel Zeit dafür, Traumata darzustellen sowie die verschiedenen Arten, wie Menschen damit umgehen.
Jessica Jones wird von der Kritik als feministische Serie bejubelt – und das ist sie auch. Erstens, weil sie zahlreiche interessante und facettenreiche Frauencharaktere bietet: Neben Jessica und Trish wäre da zum Beispiel noch Jeri Hogarth (Carrie-Anne Moss), eine lesbische, skrupellose Anwältin. Zweitens, weil die Serie einen eindeutigen „female gaze“ hat: Die Zuschauer sehen durch Jessica, sehen mit ihren Augen. In einer Szene liebkost die Kamera Luke Cages muskulösen, nackten Oberkörper – allerdings nicht geschmacklos-voyeuristisch, sondern so, wie Jessica ihn sieht, als starken und zuverlässigen Partner. Der halt zufällig einen großartigen Körper hat.
Was zählen schon Superkräfte?
„Ich war nie die Heldin, die du dir gewünscht hast“, sagt Jessica zu Trish. Und sie hat Recht: Im Prinzip ist Jessica Jones gar keine Heldin. Sie ist kaputt, will eigentlich nur ihre Ruhe haben und ihr Leben irgendwie wieder auf die Reihe kriegen. Was zählen da schon Superkräfte? Viel wichtiger als ihre Superkräfte ist Jessicas Menschlichkeit: Ihre stärkste Waffe im Kampf gegen Kilgrave ist ihre Empathie, die Tatsache, dass andere Menschen ihr wichtig sind. Jessica Jons ist somit eine absolut unperfekte Heldin – und genau das macht die Serie so sehenswert.
Die erste Staffel von Jessica Jones ist seit dem 21. November auf Netflix zu sehen.
Von Julia Korbik.
Julia Korbik ist freie Journalistin und Autorin. Das Kompliment vom Sportlehrer, sie mache Liegestütze so gut wie ein Junge, fand Julia Korbik schon in ihrer Schulzeit daneben. In Frankreich und Deutschland studierte sie European Studies, Kommunikationswissenschaften und Journalismus – und ärgerte sich über Leselisten, die nur männliche Autoren enthielten. Bevor es sie 2012 nach Berlin und zum Debattenmagazin The European verschlug, arbeitet sie u.a. für die WAZ und Cafébabel. 2014 erschien Julias Buch Stand Up. Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene (Rogner & Bernhard).