Gestern Abend habe ich aus gegebenem Anlass mit meinem besten Freund telefoniert, wobei ich eher einen lauten, aufgeregten Monolog hielt, zwanzig Minuten lang, über den für mich größten Grund nie wieder in die Heimat zu ziehen, den Supermarkt. Dieser 200 Quadtrameter weite Raum erscheint mir jedes Mal so vollgepumpt mit geistiger Winzigkeit, dass ich nach jedem einzelnen Besuch gewillt bin, einen Mandala-Malkurs zum Abbau meiner dort binnen weniger Minuten geschürten Super-Aggressionen zu belegen. Es ist ein bisschen wie im Streichelzoo, nur dass man im Angesicht dessen, was sich vor dem Gemüseregal und in den Gängen abspielt, nichts und niemanden streicheln, sondern nur noch weinen will.
Im Grunde bedarf es keiner weiteren Worte der Erklärung, an dieser Stelle kann man der eigenen Phantasie und sämtlichen Klischees getrost freien Lauf lassen, der Querschnitt des menschlichen Wurstsalats der Einöde ist nämlich genau so, wie man ihn sich vorstellt, jedenfalls in meinem Minidorf, das zu einem etwas größeren Dorf gehört, in dem es nochmal ganz anders zugeht. Hier aber wachsen hauptsächlich Beates und Renates, die ihre Einkaufslisten abarbeiten als gäbe es einen Preis zu gewinnen, gibt es ja auch, womöglich vom hungernden Ehemann, Männer sieht man hier im Übrigen kaum, dafür aber Umengen an ordentlich aufgedrehtem Haar, das auf festgefrorenen Gesichtern thront. Dazwischen wird über andere gegackert was das Zeug hält, wer Freund ist und wer Feind, lässt sich nur schwer raten, wer den besten Schwiegersohn hat, weiß man jedoch genau: „Der Micha baut jetzt auch ein Haus, der fährt auch ein schönes Auto, nett ist der,“ sowas hört man häufig. An kaum einem anderen Ort, der mir zugänglich wäre, scheinen die wirklich wichtigen Glücksfaktoren des Daseins so stiefmütterlich behandelt zu werden wie hier, es ist, als beschäftige man sich freiwillig tagein, tagaus mit Oberflächen, mit dem perfekten Gartenzaun zum Beispiel, damit man erst gar nicht Gefahr läuft, über den eigenen Horizont hinaus schauen zu müssen. Am Ende bekäme man noch Lebensdurst oder einfach Lust auf Veränderung und das käme einem sozialen Selbstmord gleich.
Glücklich dazu gehören darf hier nämlich nur, wer der Norm entspricht. Alle anderen übernehmen die Rolle der übel riechenden Esel, die ab und an ein paar Kunststücke aufführen, um das Dasein der ewig Gelangweilten zu erheitern, die ihrerseits zumindest über des dümmsten Esels Scheiße lachen können. Ich bin so ein Esel. Immer dann, wenn ich in Jogginghose und Turnschuhen ratlos vor den Bananen stehe, mit einer Frikadelle am Ohr, weil die entfernte Nachbarin nicht fassen kann, dass das Kind in diesem Neukölln aus der Zeitung aufwachsen muss. Warum ich trotzdem darüber nachdenke, irgendwann in den bis zum Erbrechen engstirnigen Schoß meiner Kindheit zurück zu kehren, oder zumindest in die Nähe, ist ein Rätsel, das sich dennoch lösen lässt: Wegen all der Momente und Menschen, die jenseits der Supermarktkasse warten. Aber zurück zum Anfang.
Mit neun Jahren habe ich gelernt, wie man am geschicktesten Eier klaut, Trecker fährt und Gurken pflückt, mit zehn verspürte ich zum ersten Mal diesen kernigen Schmerz des Stolzes, mir war ein Stück Finger zwischen Baumhaus und Nagel geraten, mit elf machte ich mich zusammen mit den Jungs von Nebenan auf dem Rüben-Anhänger des benachbarten Landwirts auf den Weg über die holländische Grenze, wir waren ausgebüchst und kassierten schnell das größte Donnerwetter unseres noch jungen Lebens, mit zwölf wusste ich, wie man Feuer im Regen und selbstgeschnitzte Flitzebogen macht und mit dreizehn kam die Pubertät.
Bis dahin liebte ich nichts mehr als die wonnige Weite des platten Rheinlandes, die höchstens durch eine Handvoll Windräder am Horizont gestört wurde. Doch dann kam der Hass, der früher oder später jeden ereilt, der dort aufwächst, wo nur vier Mal am Tag ein Bus abfährt. Wo an Schützenfest rumgeferkelt wird bis einer kotzt oder geschieden ist und man eigentlich nichts anderes tun kann, als sich beim Funkyball-Wettkampf die Lichter anzuknipsen, um der Dunkelheit des Kaffs zu entgehen. Eigentlich. Wären da nicht diese Feinheiten, die ich in der Stadt sehr lange suchen musste und manchmal noch immer vermisse. Vor allem waschechte, aufrichtige Menschen, solche, die mir vielleicht nicht sonderlich ähnlich sind, meinem Herzen aber umso mehr. Die lauter über meine Flachwitze lachen als ich auf Kommando rülpsen kann, die nicht nörgeln, weil ich mit dem Rad mal kurz den Bürgersteig schneide, die mit mir schweigen, wenn ich nichts zu sagen habe, die strahlen, obwohl Montag ist und nicht mit den Augen rollen, weil ich langsamer bin als der Rest der Kassenschlange. Am schlimmsten sind all die Rastlosen, die nicht verstehen wollen, dass Freundschaft nicht vom Avocadobrotessen kommt, die Chamäleons, die je nach Bedarf ihre Farbe und Meinung wechseln und überall dort ein wenig Pipi hinterlassen, wo es was zu fressen gibt. Die permanent auf den eigenen Vorteil bedachten Rückgratlosen. Die ewig Gehetzten, die ständig Jammernden, die verzweifelt nach immer mehr Lechzenden.
Stadt, Land, Frust also. Man kann es drehen und wenden und so viel hassen und lieben wie man will – wer beides in sich stecken hat, sollte aufhören zu viel Energie auf Wutadern zu verschwenden, die immer dann am heftigsten pulsieren, wenn der eigene Zaun gerade die meisten blank geputzten Meter misst. Wo ich am Ende alt werde, kann ich noch nicht erahnen, denn eins weiß ich inzwischen: Die ganze Welt ist ein Affenstall. Ich möchte also einfach immer genau da sein, wo meine Lieblingsäffchen sind.