Foto: Mary Scherpe
Über kaum eine Mail habe ich mich in den vergangen Tagen so sehr gefreut, wie über jene von Friederike Schilbach. Die 35-Jährige Lektorin für internationale Literatur beim S. Fischer Verlag ist so etwas wie eine professionelle Kirschensammlerin, nur, dass in ihrem Körbchen keine Früchte, sondern Buchstaben landen und zwar solche, die von der ganzen Welt gesehen und gelesen gehören. So holte sie etwa Werke von Autoren und Autorinnen wie Leanne Shapton, Lena Dunham, Sheila Heti, Kevin Powers, Elif Batuman und Matt Sumell nach Deutschland; es ist als hinge an jedem einzelnen ihr ganzes Herz. Im vergangenen Jahr zum Beispiel fand ich den Roman „Das Ende von Eddy“ von Edouard Louis in meinem Briefkasten, Friederike hatte einen handgeschriebenen Brief dazu gelegt. Eine Liebeserklärung an den jungen Franzosen, an seine 300 Seiten starke Geschichte darüber, wie wie man eine Kindheit zwischen Rassismus, Missbrauch und Gewalt überlebt, wenn man schwul ist. Aus meinen beim Lesen vergossenen Tränen hätte man womöglich mehr als eine ganze Kanne Tee aufkochen können.
Friederike ist mit hoher Wahrscheinlichkeit einer der wenigen Menschen, auf deren Wesen eine der tausendfach zitierten Weisheiten Antoine de Saint-Exupèrys wirklich zutrifft: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das gilt in ihrer Welt offenbar auch für Bücher. Welche acht sie in der Vergangenheit am meisten geprägt haben, verrät sie uns hier:
Max Frisch, „Montauk“
Habe ich gelesen, als ich sechzehn war und sehr verliebt in einen Iren: Gavan, dreiundzwanzig, Sommersprossen. Wir sind Schwimmen gegangen und haben uns Nachrichten in Bücher gekritzelt. Manche davon habe ich erst gefunden, als er längst zurück in Irland war. Vielleicht war „Montauk“ so wichtig, weil auch darin die Liebe ohne Zukunft ist: Ein Wochenende, das der Ich-Erzähler, Schriftsteller, mit der jungen Lynn auf Long Island verbringt. Sie essen Hummer, das Meer unter der Sonne glitzert und blendet. Das Durcheinander aus Englisch und Deutsch, und es wird nie gesagt I LOVE YOU. Unvergesslich auch, wie die beiden am Ende auseinandergehen, zurück in New York, „Wir mussten jetzt nur noch den Ort finden, wo man sich trennt, und auf den Verkehr achten; wir nahmen uns an der Hand, als wir die Avenue zu überqueren hatten, und liefen. FIRST AVE / 46th STREET, das war der Punkt offenkundig, wir sagten BYE, kusslos, dann ein zweites Mal mit erhobener Hand: HI.“
Franz Hessel, „Heimliches Berlin“
Das Buch hat mir eine Freundin geschenkt, als ich nach Berlin gezogen bin, in meine erste Wohnung in die Torstraße. Ich liebe alles daran, dass es so schmal und wild ist und von Berlin in den 1920ern erzählt, als wäre es heute. Eine Frau und zwei Männer, sie sind Boheme, gehen viel aus und wollen nur eins: intensiv leben.
Nell Zink, „Der Mauerläufer“
Ein seltsamer kleiner Roman, irgendwie fucked up, frisch erzählt – die Geschichte eines Paares, das auseinanderdriftet und auf einem Roadtrip einen Vogel namens Rudolf rettet. Erinnert mich an eine Reise nach New York und das Jane Hotel, wo ich morgens sehr glücklich darin gelesen habe. (Erscheint im März auf Deutsch)
Leanne Shapton, „Was She Pretty?“
Leanne Shapton ist eine meiner Lieblingsautorinnen. Seit sie „Bedeutende Objekte“ geschrieben hat, die Geschichte einer Beziehung erzählt in Form eines Auktionskatalogs, arbeiten wir zusammen an ihren Büchern und sind Freundinnen. „Was She Pretty?“ ist eine ihrer ersten Veröffentlichungen – und umwerfend. Es geht um Eifersucht, Unsicherheiten und warum wir uns manchmal mit anderen vergleichen. Und da sind sie, Josephine, Vanessa, Annabel, Agnes, Louise: Exfreundinnen von Freunden, die mit einer Illustration und ein, zwei Sätzen anekdotisch porträtiert werden, und immer so wahnsinnig interessant scheinen – Gespenster aus der Vergangenheit unserer Liebsten.
Jennifer Clement, „Gebete für die Vermissten“
Ein Roman, den ich nie vergessen werde wegen seiner leuchtenden Bilder: Es geht um Ladydi, ein Mädchen, das in Guerrero in den Bergen Mexikos, umgeben von Mohnfeldern aufwächst. Es gibt dort Armut, Hitze, Leguane, Spinnen und Skorpione. Mädchen werden als Jungen verkleidet und möglichst hässlich gemacht, weil sie sonst von Drogen- und Menschenhändlern entführt werden. Ladydis Vater ist längst in die USA abgehauen, ihre Mutter trinkt Bier und guckt History Channel, aber Ladydi träumt von einer richtigen Zukunft. Durch Zufall findet sie Arbeit in Acapulco und die große Liebe, aber dann wird alles anders, als sie in einen Drogendeal verwickelt wird und schon wieder kämpfen muss, um zu überleben.
Max Porter, „Grief Is the Thing With Feathers“
Ein schmales Buch, mehr Novelle oder Fabel oder ein langes Gedicht. Erzählt wird die Geschichte einer Familie, in der die junge Mutter stirbt. Da nistet sich ein seltsam gefiedertes Teil, eine wunderliche, überlebensgroße Krähe beim Vater und den beiden kleinen Jungs zuhause ein, und wird die Familie erst wieder verlassen, wenn die erste Zeit der Trauer überwunden ist. Poetisch, wild – ich habe viele Sätze unterstrichen. Gibt es auch auf Deutsch („Trauer ist das Ding mit Federn“), aber ich mochte das Cover der englischen Ausgabe so gern.
Rebecca Solnit, „Wenn Männer mir die Welt erklären“
Noch ein Geschenk von einer guten Freundin: Rebecca Solnit schreibt großartige, feministische Essays, zum Beispiel darüber, warum Männer Frauen so gern die Welt erklären. Vor allem der erste, titelgebende Essay über männliche Überheblichkeit ist sehr unterhaltsam.
Elena Ferrante, „My Brilliant Friend“
Elena und Lila wachsen im Neapel der 50er gemeinsam auf und werden ihr Leben lang umeinander kreisen als beste Freundinnen, Vertraute, verbunden über Männer, Liebhaber, Karrieren, Geschichten, Nähe und Abstand, Schönheit und Verletzungen. „L’amica geniale“, oder auf Englisch „My Brilliant Friend“, ist der erste Band dieser großen Geschichte, es gibt insgesamt vier. Ich beneide alle, die Ferrante noch vor sich haben. Weil die italienische Autorin nicht öffentlich auftritt und ihre Bücher für sich sprechen lässt, weiß kein Mensch, wer sich hinter dem Namen Elena Ferrante verbirgt – es ist das bestgehütete Geheimnis der Literaturbranche. Okay, das Cover sieht ein bisschen campy aus, aber so rauschhaft und echt ist selten über Freundschaft geschrieben worden. Happy Reading!
Tausend Dank, liebe Friederike!