Als ich vor ein paar Jahren zum ersten Mal Wind von Snapchat bekam, war ich schnell Fan des unschuldigen App-Neulands. Man schickte sich lustige Clips quer durch den Freundeskreis, malte mit dem Finger Herzen über das Käsebrot, munterte Kommilitonen mit der eigenen Klausuren-Tragödie beim Büffeln auf oder schwur sich über eine Distanz von 500 Kilometern ewige Freundschaft. Das rohe Leben war das, ohne Filter und auch fast ohne den heute omnipräsenten und Salon-fähigen Social-Media-Narzissmus, über den wir an dieser Stelle gar nicht streiten wollen, anderes Thema. Was dann jedenfalls geschah, muss ich euch kaum erklären – Instagram überflutete alles und noch mehr und die einst ungeschönte Spontanästhetik wich binnen weniger Monate dem ganz großen Inszenierungswahn. Was ging also ein erleichtertes Seufzen durch die Reihen, als Snappy seinen zweiten Frühling einläutete, alle waren sie ja gierig auf das neue alte Tool, das endlich wieder mehr Realität versprach. Dass sich die Utopie einer beinahe nahbaren Internet-Welt voll Natürlichkeit vor allem in Bloggerkreisen zu einem wahr gewordenen Alptraum mit Reality Soap Referenzen mausern würde, ist eine Wendung, die viele sehr wohl kommen sahen, aber nur die Wenigsten begreifen können. Außer, man steckt selbst bis zum fünften Video der eigenen Schmolllippen infolge tief drin.
Seit ein paar Wochen beäuge ich jetzt schon das Treiben rund um den weißen Geist im gelben Kasten und von den meisten mir präsentierten Videos lasse ich mich sogar mit großem Vergnügen berieseln. Ich folge sympathischen Bloggerinnen durch den Tag, sehe Landschaften von der anderen Seite der Welt, niedliche Schweinenasen oder geistreiche, selbstironische Kommentare und Grimassen. All das stört mich nicht, ganz im Gegenteil, ich wünschte, ich selbst wäre eine ähnlich ambitionierte Snapchat-Rampensau. Allerdings überwiegt bisweilen noch die Sorge, am Ende zu werden wie jene, die das permanente Filmen aus Langeweile offenbar verrückt gemacht hat. Und das sind wahrlich nicht wenige. Diesmal geht es demnach also nicht wie sooft um die Adressaten, die in Scheinwelten ersaufen, sondern um die Protagonisten selbst. Ehrlich gesagt gruselt es mich regelrecht bei der Frage danach, was Snapchat denn eigentlich mit der Psyche seiner Benutzer_innen macht. Und mit deren Gehirnzellen. Das darf doch wirklich nicht wahr sein, dieser Affentanz.
Denn: Das sogenannte Fremdschäm-Niveau, das uns bisweilen vorrangig aufgrund diverser RTL II Formate bekannt ist, wird auf Snapchat nicht selten durch Selbstgespräche mit der Handy-Kamera auf ein bisher ungeahntes Level gehoben. Worte, die an Banalität und Satzreihen, die an Monotonie kaum zu übertreffen sind, führen ein Wettrennen mit affektierten Gesten. Zur Schau gestellte Langeweile mündet in nahezu surrealen Affekthandlungen, die normalerweise noch nicht einmal hinter verschlossener Tür praktiziert werden würden. Und dann dieses zwanghafte Dokumentieren von Nebensächlichkeiten, die so nebensächlich sind, dass sie weder amüsieren, noch erden, noch interessieren. Es ist ein reines Schauspiel, aufgeführt von Menschen, die im echten Leben womöglich die liebsten, im digitalen aber die unfassbarsten sind. Beim Betrachten des Dramas möchte man manchmal laut schreien und sagen: Mach das nicht. So bist du doch gar nicht. Du tust dir hier gerade wirklich keinen Gefallen.
Versteht mich nicht falsch, es ist ja nicht so, als würde mich der Alltag anderer gänzlich unberührt lassen, ganz im Gegenteil, nehmt mich mit, wohin ihr wollt und quasselt bis die Sonne untergeht. Es ist mir in der Regel sogar die reinste Wonne; selbst der sinnentleerteste Beitrag kann ein kurzweiliges Vergnügen sein – sofern noch einen Funken der echten Person hinter all den Schießhaufen-Emojis zu erkennen ist. Trotzdem tut es immer dann weh, wenn nicht Gesichter, sondern Persönlichkeiten zu fiesen Grimassen verzerrt werden. Wenn Überheblichkeit zur antrainierten Attitüde wird, wenn mich leere Augen anstarren, immer und immer wieder, wie versteinert, einfach so, weil gerade nichts anderes zu tun war, als sich im eigenen Antlitz zu suhlen. Weil sich eigentlich sympathische Mädchen plötzlich aufführen als seien sie längst von Interesse für die InTouch, ganz im Sinne von Andy Warhols 15-Minutes-Of-Fame-These. Mich macht vor allem diese Tristesse fertig. Die Ödnis. Als wisse niemand mehr irgendetwas mit kurzen Momenten der Ruhe anzufangen, als müsse jede Stille heutzutage alsbald mit Stumpfheit übertrumpft werden. Das Verrückteste: Dieses sekundenschnell Degradieren der eigenen Person geschieht keineswegs durch Zweite oder Dritte, sondern einzig durch den jeweiligen Snapper selbst, der tendenziell ahnungslos ob seiner Außenwirkung scheint und das, was er dort veranstaltet, allenfalls aus der Ich-Perspektive bewertet. Eigentlich spitzenmäßig, fast schon anarchistisch und auf jeden Fall gefühlsgeleitet. Bloß kommt bei besagten Prozessen weniger der echte Charakter zum Vorschein als vielmehr ein ätzender Klon desgleichen. Snapchat vermag es also offenbar, die Schere zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung weiter aufzureißen alles alles bisher Gekannte. Ich weiß nicht, ob das, was ich da in extremen Fällen sehe, noch gesund ist. Ich weiß nur, dass es mehr wird. Snapchat muss magische Kräfte besitzen.
Das Phänomen der mitunter erschreckenden Snapchat-Persönlichkeit, die irgendwie parallel zur echten Persönlichkeit zu koexistieren scheint, ist jedenfalls auch im professionellen Bereich ein Problem, und zwar meist dann, wenn nicht mehr zwischen Authentizität und schnodderiger Selbstüberschätzung unterschieden werden kann. Wo die einen seit Jahren dafür kämpfen, das Bloggertum als ernstnehmende Profession zu etablieren, treten andere das Geleistete ganz unbedarft mit Füßen. Nicht selten wird da zum Beispiel ein Geschenk nach dem anderen ausgepackt, ohne jegliche Regung von sichtbarer Dankbarkeit, sondern mit einer Selbstverständlichkeit, die der Verzogenheit fiktiver Märchenprinzessinnen in nichts nachsteht – und wehe, der Gratis-Nagellack passt nicht ins Konzept. Dann wird wie selbstverständlich über die Fähigkeiten und den guten Geschmack der zuständigen Agentur geschimpft, ganz ungeniert und öffentlich. Das Gesagte bleibt ja glücklicherweise nicht für immer, da kann man sich schon mal für einen kurzen Augenblick vergessen, genau wie die guten Manieren.
Ist Snapchat also so etwas wie eine regelfreie Zone? Eine, in der selbst der Bodensatz unserer geheimsten Abgründe nicht fehl am Platz ist, das Schlaraffenland für all die von Regelkonformität Erschlagenden? Das wäre immerhin die schönste aller Erklärungen. Aber vor allem eine, die alles hier Vorangegangene und Gesagte als wahre Trivialität entlarven würde. Vielleicht ist es wirklich so einfach. Vielleicht sorge ich mich zu Unrecht. Vielleicht macht Snapchat überhaupt nicht krank, sondern einfach nur unabsichtlich ehrlich – bishin zur Unkenntlichkeit.