Letztens saß ich im Zug neben einem Mann der, ohne zu zögern, die mittlere Armlehne für sich beanspruchte. Innerlich ärgerte ich mich maßlos darüber (ich wollte die blöde Armlehne gar nicht, aber es hätte ja sein können), äußerlich lächelte ich nett und las weiter in einem Buch. Nachher war ich dann sauer auf mich selbst, weil ich nichts gesagt hatte.
Solche Situationen passieren mir immer wieder. Es ist nicht nur der Mann, der die Armlehne in Besitz nimmt. Es ist auch der Mann, der sich in der U-Bahn über drei Sitzplätze ausbreitet, weil Sitzen ohne weit geöffnete Beine eben nicht lässig-männlich ist. Es ist die Frau, die mir auf dem schmalen Gehweg entgegenkommt und von mir zu erwarten scheint, dass ich diejenige bin, die ausweicht. Was ich dann auch mache. Manchmal bin ich kurz davor, etwas zu sagen – lasse es dann aber doch. Das ist es nicht wert, denke ich.
Die Höflichkeit zu weit getrieben
Die Wahrheit ist ja: Diese Menschen ärgern mich, sie irritieren mich durch ihr Verhalten. Ich möchte mein Medusa-Gesicht aufsetzen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Aber: Ich bewundere sie auch irgendwie. Für ihre Art, Platz zu beanspruchen. Ihn sich selbstverständlich zu nehmen, ohne darüber nachzudenken. Wenn ich hingegen in der Öffentlichkeit unterwegs bin, denke ich immer darüber nach, ob ich nicht zu viel Platz einnehme. Das ist einigermaßen komisch, weil ich durchaus selbstbewusst bin: Ich rede meistens eher laut und mit dramatischen Handbewegungen, ich bin nicht schüchtern und habe bei Vorträgen und Diskussionen kein Problem damit, wenn ein ganzer Raum voller Leute mir zuhört. Ich spreche oft und gerne über Feminismus und darüber, wie wichtig es ist, Raum einzunehmen. Warum fällt es mir also so verdammt schwer, in so vielen Situationen selber Platz zu beanspruchen?
Viel hat wahrscheinlich mit der Erziehung zu tun. Meine Eltern sind höfliche Menschen und so wurden meine Schwester und ich auch erzogen: zuvorkommend, freundlich, hilfsbereit. Vielleicht haben wir es mit der Höflichkeit einfach etwas zu weit getrieben. Man kann sich theoretisch auch höflich beschweren – aber ich beschwere mich lieber gar nicht. Das könnte ja zu einer Konfliktsituation mit einem mir völlig fremden Menschen führen. Interessanterweise ist meine Mutter in den letzten Jahren in dieser Hinsicht selbstbewusster geworden. Wenn jemand ihr im wahrsten Sinne des Wortes Platz wegnimmt, sagt sie etwas. Früher hätte sie, wie ich, geschwiegen. Das ist natürlich gut für meine Mutter, aber ich will nicht erst die 50 überschreiten müssen, um dem in meinen Nacken atmenden Mann sagen zu können: „Sie stehen ZU NAH!“
Kein Männerthema?
Viel hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Was nicht heißen soll, dass Frausein automatisch bedeutet, sich in oben genannten Situationen so aufzuführen, wie ich es tue. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die überhaupt kein Problem damit haben, Platz einzunehmen. Die selbstbewusst sind und sich nie die Armlehne klauen lassen würden. Aber: Mir fällt auf Anhieb kein einziger Mann aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis ein, der dieses Platz-Problem hat. Es ist kein Thema, über das Männer sich groß Gedanken zu machen scheinen.
Vielleicht kommen hier Erziehung und Geschlecht zusammen: Mädchen wird beigebracht, dass sie zurückhaltend sein, keinen Platz einnehmen sollen. Jungs lernen genau das Gegenteil. Ob den Eltern das jetzt bewusst ist oder nicht. Zumindest war es in meiner Kindheit so. Heute haben sich die Dinge geändert: Eine Kinder- und Jugendbuchautorin erzählte mir mal, dass Mädchen heute unfassbar selbstbewusst seien. Ich wünsche mir wirklich, dass das stimmt. Dass da eine Generation von Mädchen herangewachsen ist (und es noch tut), die sich ihren Platz nicht wegnehmen lassen. Die ihre Klappe aufmachen und was sagen.
Einfach mal „Ja“ sagen
Ich lese gerade The Year of Yes von Shonda Rhimes, was genauso brilliant und lustig ist, wie man es von Shonda Rhimes erwarten würde. Weil ihre Schwester feststellt, dass Rhimes immer zu allem „Nein“ sagt, beschließt Rhimes, von nun an zu allem „Ja“ zu sagen – „Ja“ zu allem, was ihr Angst einjagt und sie herausfordert. Ich möchte laut „Ja“ sagen zum Raumeinnehmen. „Ja“ dazu, die Armlehne zu beanspruchen. „Ja“ dazu, den Typen in der U-Bahn nicht nur mit genervten Blicken zu traktieren sondern ihn zu fragen, ob er wirklich drei Sitze braucht. „Ja“ dazu, nicht immer als Erste auszuweichen. In den nächsten Wochen stehen einige Zugfahrten an – ich freue mich jetzt schon.
Foto: Vogue.com // Collage: This is Jane Wayne