Kommentar // Von der Schwierigkeit,
Raum einzunehmen.

17.10.2016 Feminismus

julia korbik feminismus heute

Letztens saß ich im Zug neben einem Mann der, ohne zu zögern, die mittlere Armlehne für sich beanspruchte. Innerlich ärgerte ich mich maßlos darüber (ich wollte die blöde Armlehne gar nicht, aber es hätte ja sein können), äußerlich lächelte ich nett und las weiter in einem Buch. Nachher war ich dann sauer auf mich selbst, weil ich nichts gesagt hatte.

Solche Situationen passieren mir immer wieder. Es ist nicht nur der Mann, der die Armlehne in Besitz nimmt. Es ist auch der Mann, der sich in der U-Bahn über drei Sitzplätze ausbreitet, weil Sitzen ohne weit geöffnete Beine eben nicht lässig-männlich ist. Es ist die Frau, die mir auf dem schmalen Gehweg entgegenkommt und von mir zu erwarten scheint, dass ich diejenige bin, die ausweicht. Was ich dann auch mache. Manchmal bin ich kurz davor, etwas zu sagen – lasse es dann aber doch. Das ist es nicht wert, denke ich.

Die Höflichkeit zu weit getrieben

Die Wahrheit ist ja: Diese Menschen ärgern mich, sie irritieren mich durch ihr Verhalten. Ich möchte mein Medusa-Gesicht aufsetzen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Aber: Ich bewundere sie auch irgendwie. Für ihre Art, Platz zu beanspruchen. Ihn sich selbstverständlich zu nehmen, ohne darüber nachzudenken. Wenn ich hingegen in der Öffentlichkeit unterwegs bin, denke ich immer darüber nach, ob ich nicht zu viel Platz einnehme. Das ist einigermaßen komisch, weil ich durchaus selbstbewusst bin: Ich rede meistens eher laut und mit dramatischen Handbewegungen, ich bin nicht schüchtern und habe bei Vorträgen und Diskussionen kein Problem damit, wenn ein ganzer Raum voller Leute mir zuhört. Ich spreche oft und gerne über Feminismus und darüber, wie wichtig es ist, Raum einzunehmen. Warum fällt es mir also so verdammt schwer, in so vielen Situationen selber Platz zu beanspruchen?

Viel hat wahrscheinlich mit der Erziehung zu tun. Meine Eltern sind höfliche Menschen und so wurden meine Schwester und ich auch erzogen: zuvorkommend, freundlich, hilfsbereit. Vielleicht haben wir es mit der Höflichkeit einfach etwas zu weit getrieben. Man kann sich theoretisch auch höflich beschweren – aber ich beschwere mich lieber gar nicht. Das könnte ja zu einer Konfliktsituation mit einem mir völlig fremden Menschen führen. Interessanterweise ist meine Mutter in den letzten Jahren in dieser Hinsicht selbstbewusster geworden. Wenn jemand ihr im wahrsten Sinne des Wortes Platz wegnimmt, sagt sie etwas. Früher hätte sie, wie ich, geschwiegen. Das ist natürlich gut für meine Mutter, aber ich will nicht erst die 50 überschreiten müssen, um dem in meinen Nacken atmenden Mann sagen zu können: „Sie stehen ZU NAH!“

Kein Männerthema?

Viel hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Was nicht heißen soll, dass Frausein automatisch bedeutet, sich in oben genannten Situationen so aufzuführen, wie ich es tue. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die überhaupt kein Problem damit haben, Platz einzunehmen. Die selbstbewusst sind und sich nie die Armlehne klauen lassen würden. Aber: Mir fällt auf Anhieb kein einziger Mann aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis ein, der dieses Platz-Problem hat. Es ist kein Thema, über das Männer sich groß Gedanken zu machen scheinen.

Vielleicht kommen hier Erziehung und Geschlecht zusammen: Mädchen wird beigebracht, dass sie zurückhaltend sein, keinen Platz einnehmen sollen. Jungs lernen genau das Gegenteil. Ob den Eltern das jetzt bewusst ist oder nicht. Zumindest war es in meiner Kindheit so. Heute haben sich die Dinge geändert: Eine Kinder- und Jugendbuchautorin erzählte mir mal, dass Mädchen heute unfassbar selbstbewusst seien. Ich wünsche mir wirklich, dass das stimmt. Dass da eine Generation von Mädchen herangewachsen ist (und es noch tut), die sich ihren Platz nicht wegnehmen lassen. Die ihre Klappe aufmachen und was sagen.

Einfach mal „Ja“ sagen

Ich lese gerade The Year of Yes von Shonda Rhimes, was genauso brilliant und lustig ist, wie man es von Shonda Rhimes erwarten würde. Weil ihre Schwester feststellt, dass Rhimes immer zu allem „Nein“ sagt, beschließt Rhimes, von nun an zu allem „Ja“ zu sagen – „Ja“ zu allem, was ihr Angst einjagt und sie herausfordert. Ich möchte laut „Ja“ sagen zum Raumeinnehmen. „Ja“ dazu, die Armlehne zu beanspruchen. „Ja“ dazu, den Typen in der U-Bahn nicht nur mit genervten Blicken zu traktieren sondern ihn zu fragen, ob er wirklich drei Sitze braucht. „Ja“ dazu, nicht immer als Erste auszuweichen. In den nächsten Wochen stehen einige Zugfahrten an – ich freue mich jetzt schon.

Foto: Vogue.com // Collage: This is Jane Wayne 

9 Kommentare

  1. Anna

    Vielen, vielen Dank für diesen großartigen Artikel, der mir aus der Seele spricht! Mir geht es ganz genauso, obwohl ich ein selbstbewusster Mensch bin, der vor vielen Leuten sprechen kann und obwohl ich sehr genau weiß, was ich will. ich mache grundsätzlich immer Platz, rücke zur seite, weiche aus und glaube ebenfalls, dass es mit meiner Erziehung zu Höflichkeit zu tun hat. Interessanterweise kann ich die Veränderung bei meiner Mutter mittlerweile ebenso erkennen, bis zu einem Punkt, an dem ich denke, ach jetzt laß doch mal gut sein, war doch gar nicht so schlimm, muss Dich doch nicht ärgern – gelernt ist gelernt. Es gibt da eine „Greys Anatomy“-Folge von Shonda Rhimes, in dem ein Patient aufgrund eines Tumors den ganzen Tag ausschließlich sagt, was er gerade denkt, egal wen es verletzten könnte. Jedesmal, wenn ich diese Folge sehe, überlege ich, was passieren würde, wenn ich tatsächlich immer sagen würde, was ich gerade denke, auch wenn es nichts Nettes oder Freundliches ist, aber für die Umsetzung fehlt dann doch meistens der Mut. Viele Grüße, Anna

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  2. Rini

    Vor einer Woche habe ich ein sehr interessantes Seminar besucht. Während eines Rollenspiels sollten wir abwechselnd als König (hoher Status) oder als Bettler (niedriger Status) durch den Raum schreiten oder schleichen. Ein kleiner Augenöffner, ich bewege mich viel zu oft als „Bettler“ und weiche allen und allem aus, mache Platz, wirke eingeschüchtert. Ich habe mir vorgenommen, von nun an öfter wie eine Königin zu schreiten und mich nicht immer zu verdünnisieren. Vielen Dank für den Artikel und die Erinnerung, in den letzten 7 Tagen war ich immer noch als Bettler unterwegs.

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  3. Wonda

    Sehr schöner Text, Julia!
    Ich kann es völig nachvollziehen! Ich nehme mir immer wieder vor mehr Raum einzunehmen und ertappe mich in solch scheinbar unbedeutenden Situationen dabei, wie ich davor zurückschrecke. Das wurmt mich im Nachhinein schon sehr!

    Shonda Rhimes ‚The Year of Yes‘ habe ich verschlungen. Ich sollte mich ebenfalls wieder herausfordern 🙂

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  4. Anja

    Ich kenne das Gefühl auch und ich glaube es kommt auf die innere Haltung an, die sich körperlich ausdrückt. Raum einnehmen hat ja auch mit Selbstbewusstsein zu tun, sich diesen Raum nehmen zu dürfen. Das gilt sowohl körperlich als auch emotional. Sich eingestehen, das zu dürfen wonach einem ist. Das muss man sich bewusst machen und üben. Man muss sich nicht alles gefallen lassen. Manchmal kann man aber auch über solchen Raumeinnehmenden Personen stehen und sehen, wie bedürftig sie sind. Balance ist hier wichtig, zu reflektieren, ob diese Situation jetzt annehmbar ist oder geändert werden muss.

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  5. Svenja

    Story of my life – ich bin definitiv zu zuvorkommend und rücksichtsvoll. Neuerdings bemühe ich mich aber um ein gesünderes Maß.

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  6. anvic

    Ich denke „Platz zu machen“ also sich zurückzuziehen wenn es nötig/nett wäre ist je nach Situation genauso wichtig, wie sich selbst Platz zu machen, wenn man es gerade braucht oder andere nicht damit einschränkt.

    Mich ärgert eher die Tatsache, dass manche Menschen sich ihrem Verhalten gar nicht bewusst sind oder darüber nachdenken, dass es vielleicht unhöflich oder einschränkend für andere ist, wenn sie in der UBahn 3 Plätze belegen, wenn der Wagon KOMPLETT VOLL ist. Dann erschrecken sie förmlich, wenn man nett fragt, ob man einen von den 3 Plätzen vielleicht noch nutzen könnte. Ich finde es wichtig, die Situation abwägen zu können, ob andere Menschen vielleicht auch genau den Platz haben wollen wie man ihn sich selbst grabscht und dann entscheiden zu können ob man den Platz jetzt geben will oder nicht. Das ist vielleicht manchmal unnett, aber zumindest bewusst. Niemand hat 3 Meter UBahn bezahlt oder sind einem von Geburt zugeteilt, nur weil man a) reicher b) Mann c) weißer d) arroganter c) whatever (Beispiele) ist.

    Königin darf man gerne sein, wenn es die anderen nicht zum Untertan macht, ist da mein Credo.

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  7. Andrea

    Sehr guter Text mit dem ich mich verbunden fühle. Früher war ich extrem schüchtern und ruhi..habe mir alles gefallen lassen. heute habe ich kein Problem damit etwas zu sagen oder zu zeigen was mich nervt. Da muss man dran arbeiten. Das Buch hört sich übrigens sehr interessant an!

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  8. Michaela

    Oh ja, das kenne ich auch. Die Dauerredner im Montagsmeeting, die Frau, die jeden Morgen im vollbesetzten Zug 3 Plätze beanspruchte (1 Platz für ihre Füsse und 1 Platz für ihre riesen Tasche nebenan), die Bekannte, die in jedem Gespräch alles an sich reisst… Oft habe ich nichts gesagt (aber mit einem ungesunden Zorneskloss im Hals), manchmal habe ich etwas gesagt. Je nachdem, wie es mir selbst ging. War ich in mir selbst, konnte ich den Mund öffnen, war ich es nicht, habe ich mich still geärgert.
    Viele Situationen habe ich hinter mir gelassen (bin schon lange selbstständig und arbeite von zu Hause aus = kaum noch Zugfahrten, KEINE Montagsmeetings ;-)). Bei den restlichen Situationen versuche ich, in mich hineinzuhören und erstmal zu eroieren, ob ich mich hinterher besser fühle, wenn ich etwas sage.
    Ansonsten macht beim eigenen Raum einnehmen wirklich die Übung etwas aus. Mit jedem Mal fällt es leichter. Und ja, wenn ich „es“ geschafft habe, dann fühle ich mich hinterher erleichtert und auch ein wenig stolz.
    Toll finde ich die oben genannte Übung mit dem Gang der Königin und dem Gang des Bettlers. Dies dann noch innerlich adaptiert beim Sitzen, beim Aufstehen und in allen anderen körpersprachlichen Signalen….
    Königliches Wachstum wünsche ich euch allen
    LG Michaela

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