Meistens packt es mich Samstags. Dann stampfe ich gen Lieblingsbuchladen und besorge mehr Lesestoff als ich binnen einer Woche überhaupt bewältigen kann. Was aber gut ist, vor allem als Allheilmittel gegen Seriensucht. Nun liegt er jedenfalls da, gleich neben dem endlich ins Deutsche übersetzten Klassiker „I Love Dick“, der 900 Seiten schwere, heiß diskutierte Roman „Ein wenig Leben“, der mich schon ganz zu Beginn so sehr einnahm, dass ich noch im letzten Moment eine Verabredung sausen lassen musste. Auf solch bewegenden Langzeitstrecken jedenfalls kommt mir ein kleines papierenes Ablenkungsmanöver von der seichten Sorte stets sehr gelegen. Diesmal zum Beispiel in Form von Manuela Reicharts Erzählband „Beziehungsweise“, den man ratzfatz verschlungen hat. Vielleicht auch, weil die Liebe uns alle betrifft. Wie ein roter Faden zieht sie sich durch unser Leben, mal als Glück, mal als Unglück. Immer gibt es einen Anfang und oft ein Ende – übrig bleibt aber stets dasselbe: Erinnerungen. Darum und um noch viel mehr geht es in Manuela Reicharts Texten, die von wohltuenden und kaputten Beziehungen erzählen, von Seitensprüngen und Hoffnung, von Zufällen und Neuanfängen. Von den unergründlichen Variationen der Liebe.
„Der Anfang ist immer schön. Und dann? War es so oder nicht doch ganz anders? Das Spiel der Erinnerungen beginnt.
Manuela Reichart erzählt von allen Facetten der Liebe: Von Annemarie, die nach ihrer Scheidung in Paris als Sarah ein neues Leben beginnt, zuerst mit einem Mann, dann mit einer Frau. Von der Frau, die den falschen Mann im richtigen Leben wählt. Oder ist es der richtige Mann im falschen Leben? Und der Mann, der sich im Wiener Naturkundemuseum Hals über Kopf neu verliebt, kehrt am Ende zur alten Liebe zurück. Die mag zwar keine ausgestopften Tiere, hat aber geduldig auf ihn gewartet.
Die richtige Liebe? Die gibt es im Kino – und manchmal auch in Wirklichkeit.“
„Vorspiel“ (ab Seite 55) gehört wohl zweifelsohne zu den schönsten Erzählungen des Buches:
„“Wann war der schönste Tag in deinem Leben?“, hatte die Enkeltochter gefragt, nachdem sie erst bei den Affen gestanden und sich über deren Spiele amüsiert, dann den müden Löwen zugeschaut und sich gefürchtet hatten. (…) Welcher Tag war es? (…) Als sie damals aus dem Krankenhaus entlassen wurde, gegen alle Prognosen nach Hause durfte? (…) Das Schwimmen im Meer mit dem Freund nach dem Abitur, die Sonne auf der Haut, das Salz, das erste Mal Sex am Strand? (…) Sie erinnerte sich auch an das Glück, als sie souverän eine Karte verlangte für den Film, in den man erst ab 18 durfte. Sie war gerade 15 geworden. (…)
Wie spät ist es bei dir? Und bei dir? Welten trennen uns. (…) Trotzdem oder gerade deswegen hatten sie es so lange miteinander ausgehalten. (…) Früher wolltest du nicht zu viel Nähe, heute brauche ich sie nicht mehr.
(…) Sie freute sich auf die Rückkehr ihres Ehemannes. Und sah sich dann doch – zwischen Wachen und Träumen – ihren Hochzeitswalzer tanzen, vielleicht war das doch der glücklichste Tage gewesen? Warum eigentlich nicht, warum will man immer so verdammt originell sein?“
Beim Eintauchen in die verschiedenen Biographien noch unterschiedlicherer Protagonist*innen wird der Lesende nicht nur zwischen Hoffnung und Desillusion hin und her gewogen, sondern auch zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen eigenen Erwartungen und fremden Ansprüchen. Immer wieder neue Emotionen, verworrene Gedanken, Entdeckungen zwischen den Zeilen. Und dann, am Ende, werden all die scheinbar leichten Worte ganz plötzlich zu schweren Gedanken. Die Autorin also ganz gewiss vieles richtig gemacht. Vor allem aber zeigt sie uns, dass Liebe nicht gleich Liebe ist. Stark aber allemal.
Manuela Reichart, Beziehungsweise. 176 Seiten, erschienen 2017 bei Dörlemann.