Vor einiger Zeit wurde ich von einem Frauenmagazin interviewt. Es ging darum, was Frausein im Jahr 2017 bedeutet, um Gleichberechtigung. Und natürlich ging es auch um Feminismus, um meinen Weg dahin.
Ich berichtete, dass meine Eltern im heimischen Herne schon das traditionelle Ernährer-Modell gelebt hätten: Mein Papa war Ingenieur und verdiente das Haupteinkommen. Meine Mama setzte nach der Geburt meiner Schwester und mir beruflich erstmal ein paar Jahre aus, nur ihre Wirbelsäulengymnastik-Kurse leitete sie weiter. Später stieg sie dann wieder in ihren Job in der Verwaltung eines großen Revierparks (so heißt das im Ruhrgebiet) ein, arbeitet seitdem Teilzeit. „Aha“, sagte sie Journalistin am anderen Ende der Leitung, „Sie sind also deshalb Feministin geworden! Weil sie sich von dem traditionellen Beziehungsmodell, das ihre Eltern repräsentieren, emanzipieren wollten.“
Ich war erst einmal baff. So, wie die Frage formuliert war, klang es, als müsste ich meine Eltern und das, was sie als Paar repräsentieren, blöd und ablehnenswert finden. Weil ich ja Feministin bin und deshalb allem, was irgendwie „traditionell“ ist, kritisch gegenüberstehe. Aber die Erzählung von der jungen Frau, die zur Feministin wurde, weil sie gegen ihre konservativen Eltern rebellieren musste, passt so gar nicht zu mir und meiner Familie. Das versuchte ich auch der Journalistin zu erklären: Klar, die Rollenverteilung meiner Eltern ist klassisch, mit Papa als Familienernährer und Mama als Zuverdienerin. Aber nie haben mir meine Eltern auch nur ansatzweise vermittelt, dass dieses Modell das einzig Wahre ist und sie von ihren Töchtern erwarten, es ihnen gleichzutun. Im Gegenteil: Wir wurden zum Selberdenken erzogen und so, dass wir unsere eigenen Entscheidungen treffen können. Das heißt nicht, dass meine Eltern immer alles gut finden, was ihre Töchter so treiben – aber sie würden sich nie ungefragt einmischen oder versuchen, uns in eine von ihnen vorgegebene Schablone zu pressen.
Nicht gegen, sondern wegen
Das alles versuchte ich, der Journalistin darzulegen. „Meine Mutter“, sagte ich, „ist keine Feministin, sie würde sich nie als solche bezeichnen. Einfach, weil Feminismus kein Thema ist, mit dem sie sich jemals groß beschäftigt hat. Aber sie hat immer dafür gesorgt, dass meiner Schwester und mir alle Möglichkeiten offen standen, wir selber wählen konnten. Sie hat uns immer unterstützt, und das ist doch wahnsinnig viel wert.“ Ich merkte, dass diese Antwort meine Gesprächspartnerin enttäuschte. Sie wollte über Emanzipation reden und ich konnte ihr keine wirklich inspirierende Geschichte bieten. Ich bin nicht aufgrund einer Rebellion gegen meine Eltern zur Feministin geworden, ich musste mich nicht Auf-Teufel-komm-raus von ihnen absetzen. Aber natürlich bin ich auch wegen meiner Eltern, und vor allem wegen meiner Mutter, zur Feministin geworden. Als ich mit 18 anfing, Simone de Beauvoir zu lesen und meiner Mutter aufgeregt von dieser tollen Französin erzählte, die unverheiratet und kinderlos als Intellektuelle lebte, bekam diese keinen Nervenzusammenbruch oder zweifelte an der Zurechnungsfähigkeit ihrer Tochter – sie schenkte mir den Briefwechsel zwischen Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Weil sie merkte, wie wichtig diese Simone de Beauvoir gerade für mich wurde.
Seit dem Interview denke ich oft darüber nach, was Emanzipation eigentlich bedeutet. Für mich, für andere. Laut Duden kann Emanzipation eine „Befreiung aus dem Zustand der Abhängigkeit“ bedeuten, aber auch schlicht „Selbstständigkeit“. Wikipedia weist darauf hin, dass es sich auch um eine „Aktion gesellschaftlicher und insbesondere politischer Selbstbefreiung“ handeln könne – Emanzipation im Sinne von Mündigkeit. Emanzipation bedeutet in verschiedenen Kontexten jeweils etwas ganz anderes, kann individuell und kollektiv gemeint sein. Ich musste mich, im Gegensatz zu vielen anderen, nicht aus einer Abhängigkeit befreien, musste nicht erst mündig werden. Wie sah meine Emanzipation dann aus? Vielleicht bestand sie einfach darin, dass ich mich bewusst aus dem liebevollen Cocon der Familie herausbewegt habe. Indem ich ins Ausland ging, einen Beruf wählte, den in meiner Familie niemand ausübt und der als unsicher gilt, und dann in die deutsche Hauptstadt zog. Entscheidungen, bei denen meine Familie mich stets unterstützte.
Keine „Bekehrung“
Emanzipation, das war für mich kein einzelner Akt, keine entschiedene Aktion, sondern ein langsamer Prozess. Das ist, zugegeben, wenig spektakulär und genauso langweilig wie meine „Bekehrung“ zum Feminismus: Es gab nicht den einen entscheidenden Moment, es ging kein Blitz vom Himmel nieder. Zu erklären, was Emanzipation im feministischen Kontext bedeutet, fällt mir leicht. Zu erklären, was Emanzipation für mich persönlich bedeutet, auf mein Leben bezogen, hingegen nicht. Was ich aber weiß ist, dass meine Emanzipation viel mit meiner Familie zu tun hat und der Freiheit, die sie mir gegeben hat. Die Freiheit, ich selbst zu sein. Ja, das ist offenbar keine Geschichte, mit der ich in Interviews begeistern kann. Aber es ist meine Geschichte.
Julia Korbik ist freie Journalistin und Autorin. Das Kompliment vom Sportlehrer, sie mache Liegestütze so gut wie ein Junge, fand Julia Korbik schon in ihrer Schulzeit daneben. In Frankreich und Deutschland studierte sie European Studies, Kommunikationswissenschaften und Journalismus – und ärgerte sich über Leselisten, die nur männliche Autoren enthielten. Bevor es sie 2012 nach Berlin und zum Debattenmagazin The European verschlug, arbeitet sie u.a. für die WAZ und Cafébabel. 2014 erschien Julias Buch Stand Up. Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene (Rogner & Bernhard). Im Dezember 2017 folgt außerdem ihr zweites Werk Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten (Rowohlt).