Ungeschminkt aus dem Haus zu gehen war für mich nie ein Thema. Man könnte auch sagen, es war ein absolutes No-Go. Nicht mal zum Sport wäre ich ohne Make-Up gegangen und auch mein Freund hat mich am Anfang unserer Beziehung nie ungeschminkt gesehen. Die Angst vor Ablehnung oder davor, eine Angriffsfläche zu bieten, hatte mich so sehr im Griff, dass ich mich nie wirklich für das Auftragen von Schminke entschieden habe. Ich habe einfach gar nicht anders gekonnt. Tatsächlich habe ich das aber erst vor kurzem so richtig verstanden, obwohl sich das Thema schon immer in Bewegung und unter Beobachtung befunden hatte. Dieser Moment, als ich gemerkt habe, dass ich fremden Menschen (und auch einigen Freunden) nie mein natürliches Gesicht gezeigt habe, war für mich erschütternd und schmerzhaft. Nachdem ich mich nun einige Zeit mit diesem Gefühl rumgeschlagen habe und trotzdem keinen richtigen Zugang zu mir und meinem „nackten“ Gesicht fand, war ich so richtig schön unterwegs in Richtung Verzweiflung. All diese Artikel darüber, wie viel Freiheit einem ein ungeschminktes Gesicht geben kann und wie selbstverständlich alle anscheinend das Selbstbewusstsein zu diesem Schritt aufbringen konnten… mir wollte das alles einfach nicht in den Kopf und ich habe mich lang ganz anders gefühlt. Bis ich eines morgens vergangene Woche aufstand und mich ohne Make-Up so schön fand, dass ich beschlossen habe, erst mal eine Weile so zu bleiben.
In diesem Atemzug ist es mir erst mal ganz wichtig zu sagen, dass man das auch nicht muss. Ich mag diese Artikel und etwas übersimplifizierten Meinungsäußerungen nicht, die Frauen unter einem (oft vermeintlich) feministischen Deckmantel aufzwingen, auf jeden Fall ungeschminkt sein zu müssen und sich dabei gefälligst fantastisch zu fühlen. Man muss nicht ungeschminkt sein, um sich zu mögen, zu respektieren und um stark zu sein. Jeder soll das machen wie er möchte, die einen brauchen diese ungeschminkt Phase eben und sie mag auch im ein oder andere Fall für immer anhalten, andere tragen jeden Tag Wimpertusche und Rouge und sind trotzdem selbstbewusst. Es ist also wichtig zu verstehen, dass das hier meine persönliche Herangehensweise an das Thema ist, die weder Vorbild noch Abschreckung sein soll, sondern vor allem: ehrlich.
Mein Freund hat mich das erste halbe Jahr unserer Beziehung nicht ungeschminkt gesehen. Das meine ich jetzt vollkommen ernst. Wenn ich mich abends abgeschminkt habe, habe ich mich danach wieder geschminkt – natürlich sehr wenig, sollte ja nicht auffallen, aber trotzdem musste wieder was drauf. Irgendwo in mir drin dachte ich auch tatsächlich, dass er mich wahrscheinlich verlassen würde, wenn er mich ohne Mascara und Co. sieht. Ich habe das ganz fest geglaubt, denn ich war überzeugt, das sei das Einzige, was ich habe. Er hat mir dieses Gefühl allerdings nie gegeben, dieses „Gewissheit“ war schon fest in meinem Kopf verankert, bevor ich ihn getroffen habe. Als ich meine abendliche Make-Up-Einlage irgendwann dann auch vor mir selbst nicht mehr rechtfertigen konnte, ließ ich es irgendwann bleiben und brauchte trotzdem noch fast anderthalb Jahre mich damit auch wohl zu fühlen. Und das bei einem Menschen, der mich schon in allen emotionalen Zuständen, vollkommen nackt und zu jeder Tages- und Nachtzeit gesehen hatte. Nun gehen wir in unser siebtes gemeinsames Jahr, diese Zeiten liegen also wirklich schon ein bisschen zurück. Und doch hängt mir dieser Gedanke nach und seine Bedeutsamkeit wächst zusammen mit dem zeitlichen Abstand, den ich zu ihm bekomme.
Außerhalb meiner Beziehung habe ich dieses Level dann auch nie erreicht. Ich habe mich nie ungeschminkt gezeigt. Oftmals nicht mal vor meinen Freunden. Selbstbewusstsein hat dabei in meinem Fall eine riesige Rolle gespielt. Vielleicht ist das ein Überbleibsel aus der Modelwelt, in der man entweder einem Ideal entspricht oder nicht wertgeschätzt wird, in der deine komplette Existenz von deinem Aussehen abhängt. So richtig weiß ich es nicht, es werden mehrere Faktoren zusammen gekommen sein. Diese schon fast greifbare Angst vor Ablehnung und davor, Angriffsfläche zu bieten, hatte mich tatsächlich voll im Griff – es gab Zeiten, da bin ich nicht mal ohne Make-Up an die Tür gegangen, wenn es geklingelt hat. Ohne eine Schicht auf meinem Gesicht, die alle Unebenheiten, Flecken oder Anzeichen von Müdigkeit oder Stress verschwinden ließ, fühlte ich mich nackt, verletzlich und absolut nicht schön. Ich hatte das Gefühl, dass mich die Leute auf der Straße angucken, weil ich so auffallend schlecht aussah.
Natürlich ist das nicht normal und ein Symptom für eine tiefsitzende Unsicherheit, die mich sehr lang begleitet hat und die mich auch heute zum Glück nur noch super selten besucht. Ich war mir einfach nicht sicher, warum Leute mich mögen und mit mir Zeit verbringen wollen sollten. Ich hielt diese Ablehnung, die ich in den meisten Fällen auch einfach nur vermutet oder vorausgesetzt habe, für vollkommen willkürlich und konnte sie nur an Äußerlichkeiten festmachen – denn ich habe nach Gründen gesucht, die ich kontrollieren und anpassen konnte. Heute ist das ganz anders, doch manchmal verändert man sich so langsam, dass einem die Veränderung überhaupt nicht auffällt. Als ich mich dann vor ein paar Monaten mit einer guten Freundin über das Thema unterhielt, wurde mir erst einmal bewusst, wie groß die Abhängigkeit von meinem Äußeren für mich immer gewesen ist. Mich hat das erschreckt und gleichzeitig tat der Gedanke auch weh, weil er mir gezeigt hat, wie wenig ich mich selbst wertgeschätzt und geliebt habe. Als hätte ich mich jahrelang im Stich gelassen und mit viel Härte dafür verurteilt, nicht in die Vorstellungen anderer zu passen. Zwar hatte ich zu der Zeit des Gesprächs schon riesige Fortschritte gemacht, aber auf die Sicherheit, die mir eine Schicht Make-Up vormacht, konnte ich trotzdem nicht so einfach verzichten.
Heute vor genau einer Woche bin ich dann morgens aufgewacht und habe mich im Spiegel zum ersten Mal auf eine ganz neue Art und Weise gesehen – als vollständige Person, im Gleichgewicht und frei von selbstkritischen Gedanken. Natürlich war das kein Hokuspokus-Moment, sondern ein Prozess, der (teils unterbewusst) schon Monate vorher angestoßen worden war, aber vielleicht genau in diesem Moment abgeschlossen war. Für den Rest des Tages ungeschminkt zu bleiben fühlte sich nicht mehr wie eine Aufgabe an, sondern wie Freiheit. Und das Gefühl blieb auch am nächsten Tag und am übernächsten. Eine Woche später fühle ich mich kein Stück anders als letzten Sonntag und bin mir sicher: Ab jetzt werde ich vermutlich viel öfter auf Make-Up verzichten. Weil es weniger Arbeit ist. Weil man Sommersprossen nicht abdecken muss. Weil ich mich so freier fühle und das ist ein viel schöneres Gefühl, als es mir meine Mascara je geben kann. Und was mir dann gleich noch viel mehr Freiheit gibt: Ich werde trotzdem nicht für immer auf Kajal und Co. verzichten – allerdings ist es diesmal eine bewusste Entscheidung.
Credits: Pinterest (Century 21 Award, Benefit Cosmetics, Weddbook, cargocollective)