Es ist Samstagabend, 0:34 Uhr und ich stehe an der Bar. Ich bin mit Freundinnen unterwegs, wir wollen heute ausgehen, so richtig, nach längerer Zeit der Abstinenz, wir haben uns lange auf diesen Abend gefreut. Also stehen wir irgendwann an der Bar und haben bestellt und jemand gesellt sich zu uns. Ein fremder Mann zwängt uns ein unbefangenes Gespräch auf. Die Hälfte der Gruppe konnte knapp entkommen, die andere nicht. Ich gehöre zu letzteren und versuche, freundlich zu bleiben. Er ist nämlich recht sympathisch, weshalb wir mitspielen. Mit einem Eisbrecher ging es los, Grundfragen wie Studium – Beruf – Berliner Kiez – Wohnform und Mietpreis sind schnell abgehandelt. Inzwischen sind wir allesamt mit Getränken in der Hand auf dem Weg nach draußen um eine zu rauchen. Die Stimmung ist ausgelassen. Bis die Bombe platzt: „Fabienne, woher kommst du eigentlich wirklich?“
Die Herkunftsfrage. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft sie mir gestellt wurde und ich habe aufgehört zu mutmaßen, warum jemand gerade jetzt, ausgerechnet in diesem oder jenem diese Frage stellt. Ich bin in Lübeck geboren und aufgewachsen, würde demnach immer sagen, dass ich aus Lübeck komme und, nach einem kurzen Kommentar des Gegenübers über Marzipan und die schöne Altstadt, das Thema nicht weiter beleuchten. Leider ist das gar nicht so leicht, da wollte jemand eigentlich wieder etwas ganz anderes wissen.“Nein, woher kommst du wirklich“, ist die immer wieder verdutzte Gegenfrage, wann immer ich fröhlich erkläre, dass die Königin der Hanse meine Heimat ist.
Ich warte in der Regel so lange, bis mein Gegenüber die Frage richtig formuliert, und stoße dann, fast immer, auf großes Unverständnis. Die meisten wollen wissen, woher meine Eltern kommen, oder zumindest der Teil der Familie, der nicht ganz weiß ist. Meine wirkliche Herkunft ist in ihrer Vision also ein weit entferntes Land gepaart mit einer äußerst interessanten Familiengeschichte. Die Antwort „Schleswig Holstein, Lübeck“ klingt hingegen wohl ziemlich enttäuschend. Langweilig. Ich habe wirklich schon alles gehört: Ob ich geflüchtet bin oder adoptiert wurde oder mit dem Wanderzirkus in der Stadt. Wirklich wahr. Und warum? Weil mich jemand als „nicht rein-deutsch aussehend“ identifiziert, als könnte jemand mit Afro, dunklerer Haut oder dunklem Haar nicht deutsch sein. Und da wären wir beim eigentlichen Problem der Frage angelangt:
Sie konfrontiert die Gefragten immer damit, dass sie nicht deutsch aussehen, nicht deutsch sein können, nicht dazugehören. Und ist wider der meisten Einwände tatsächlich nicht ok. Sie ist nicht ok im Club an der Bar und sie ist nicht ok an der Kasse im Supermarkt. Sollte mich jemand fragen, woher meine Eltern kommen, werde ich mit der Antwort rausrücken, mich aber trotzdem situationsbedingt dazu äußern, warum und weshalb ich diese Frage wahrhaftig als unangemessen erachte: Weil sie in einem flüchtigen Kontakt oder einem Smalltalk nichts zu suchen hat. Ich muss mich in einem solchen Fall nunmal umgehend mit Fragen zur Familie und Herkunftsland auseinandersetzen und gleichzeitig unheimlich viel preisgeben, weil meine Familienhistorie eben ein bisschen komplizierter ist und für mich ein sensibles Thema bleibt.
Die Frage nach meiner wirklichen Herkunft hinterfragt mein „Deutsch sein“. Immer dann, wenn einer nicht locker lässt und immer weiter bohrt. Ich habe Verständnis für Interesse und stufe die Frage auch nicht als grundsätzlich böswillig ein, wirklich nicht. Als übergriffig aber und indiskret allemal. Ich will, dass es mir allein überlassen ist, wann ich über meine Familienhistorie spreche, vor allem weil Identität und Nationalität für mich noch immer eine kleine Reise darstellen und ich liebend gern selbst entscheiden mag, wann ich von dieser Reise berichten möchte. Glaubt mir also: Wenn ich euch lieb gewinne, dann werde ich früher oder später von ganz allein erzählen. Bis dahin wünsche ich mir bloß ein wenig mehr Freiraum. Und auch ein bisschen mehr Feingefühl und Verständnis dafür, dass die Herkunftsfrage eine sehr private bleibt, hinter der meist viel mehr steckt als ein wahnsinnig spannendes Abenteuer, das die Gesprächsrunde zu erheitern vermag.