Stadt, Land, Frust? Oh ja! Weil man sich irgendwann entscheiden muss. Wie aber soll das gehen, als Zwischenmensch, der mit einem Bein in der Programmkino-geschwängerten Luft Neuköllns und mit dem anderen im familiären Dorfsalat steht? Für mich ist das ein bisschen so, als würde jemand danach fragen, ob ich Pizza lieber mag oder Pasta. Beides natürlich. Solange es Belag gibt! Und den gibt es ebenso hier wie dort, in Form von unendlichen Möglichkeiten, die hinter jeder Ecke lauern.
Aber zurück zum Ursprung meiner gedanklichen Geisterfahrt, tief hinein ins rheinländische Korschenbroich, das mir schon früh das Baumhausbauen lehrte. Ich war jung und wild, meist dreckig und gut am Traktor-Lenker, den mein Opa, ein Landwirt, mir schon mit zarten neun Jahren übergab. Morgens wurde ich von Max Beule geweckt, der stets vom Nachbarhof herüber rief und durch einen Lenkdrachenunfall zu seinem Spitznamen kam. Wir, die Kinder vom Schanzerhof, lachten über die „Kinder vom Süderhof“ – das echte Leben erschien uns mindestens drei Mal so köstlich und abenteuerlich. Blöd nur, dass wir irgendwann Teenager und gelangweilt und von Wachstumsscherzen geplagt wurden. Ganz so, als hätten wir uns aus mit einem Mal aus unserer Kindheit geschält wie aus einem zu kleinen Pullover. Das Dorf hatte seine Magie verloren, so wie die Stadt fünfzehn Jahre später ihren Reiz.
Hätte man mich mit Mitte 20 gefragt, über welchen Bürgersteig ich einst meinen Rollator schieben würde, wäre die Antwort so klar gewesen wie die gleichzeitige Feststellung, dass ein Dorfleben rein gar nichts (mehr) für mich ist. Ich hätte über die Beschränktheit der Supermarktbesucher geflucht, die mir bei jedem Ausflug in die Heimat entgegen schlug wie ein heißes Fegefeuer und mich dementsprechend regelmäßig zum Schimpfen und Weglaufen brachte, ich hätte über die fehlende Kultur gewettert und diesen Gesamthorizont, der mir nicht weiter als bis zur eigenen Gartenhecke zu reichen schien. Ich wäre allein an der Vorstellung verzweifelt, jeden Tag die selben Nachbarn zu sehen, festgenagelt zu sein und ganz in der Nähe, wenn das Schützenfest zum kollektiven Saufen einlädt.
Bis vorgestern, als ich mit meiner Oma am Kamin saß, während meine Mutter Kuchen kaufte, Lio die Blumen tränkte und Max Beule von der anderen Straßenseite durchs Fenster rief, dass nebenan noch reichlich Honig in Gläsern übrig sei. Ich stellte mir vor, wie es sein könnte, ein Buch am offenen Fenster zu schreiben, den Stuck im Wohnzimmer zu streichen, Zeit mit meiner Familie zu verbringen, die irgendwann einmal, ganz zwangsläufig, kleiner werden würde. Ich bekam Angst davor, genau dann nicht da sein zu können, weil mir eine Zukunft ohne die, mit denen ich groß geworden bin, so lange viel verkraftbarer erschien als eine Zukunft ohne Berlin und alles, was inzwischen dazu gehört.
Und dann bekam ich Angst davor, mein Leben zu verpassen, sollte ich irgendwann tatsächlich zurückkehren. Meinen Anspruch, meine Leidenschaft, alles, was mir wichtig ist. Meine Freunde und sämtliche Großstadtfreuden, die nicht nur mir gut tun, sondern auch meinem Kind, das nichts anderes kennt als das hier. Das U-Bahnen liebt und den Park neben unserem Haus, den Musikkurs und die Museen. Wäre er ein bisschen größer, denn säßen wir ganz bestimmt im selben Boot. Weil es kein besser oder schlechter, weil es an beiden Orten Schönes und Schlimmes gibt. Weil wir Zwischenmenschen sind, die sich langsam aber sicher im Spagat befinden, aber nicht wissen, auf welche Seite sie sich retten sollen.