Mir war, als hätte ich mit der Titanic nach Hamburg übergesetzt, schon auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel, dessen gläserne Eingangspforte mich am Nachmittag mit einer halben Drehung verschluckte und in einer anderen Welt wieder ausspuckte. In der Chanel-Welt, in der Hotels Kempinski heißen und Adventskränze größer sind als Festtagstische. Es heißt, man solle als Redakteurin stets Distanz bewahren, aber das ist mir auch jetzt noch, eine Nacht später, schier unmöglich. Gefühlsschwanger stand ich also im Kronleuchter behangenen Foyer, als mir vor plötzlich eintretender Aufregung ein Stück Wegbrötchen im Hals stecken blieb. Mein Husten hörte niemand, zu viel Trubel, zum Glück. Ein paar Meter neben mir gaben sich gerade eine ganze Handvoll internationaler Mode-Koryphäen Bussis rechts und links, entflusten ihre Tweed-Jäckchen und flachsten auf Französisch. Mein Gott, dachte ich. Was mache ich hier nur, als Carine Roitfeld zu mir in den Aufzug stieg.
Ankommen, Durchatmen
Erstmal ankommen und durchatmen. Aber auch realisieren, dass ich bald für einen kurzen Augenblick lang Teil der Magie werden würde, die man möglicherweise nur begreifen kann, wenn man schon als kleines Mädchen im Mamas Vogue geblättert und gestaunt und gehofft hat, irgendwann einmal schreiben zu können, über das hier. Über eine Chanel Show, zum Beispiel die allererste meines 29-jährigen Lebens, über das Erbe von Gabrielle, oder eher: Coco! Ein wenig Euphorie sei mir an dieser Stelle bittesehr gegönnt, obgleich mir die unübersehbare Tatsache, dass Hamburg gerade dabei war, in ungeahnter Dekadenz zu ersaufen, zu jeder Minute bewusst war: 300 Fahrer für 1600 geladene Gäste, darunter Tilda Swinton und Kristen Stewart. Speis und Trank für alle! Und noch viel mehr.
Das Unbehagen wurde allerdings, so viel Ehrlichkeit muss sein, schon wenige Stunden später von einem kompletten Orchester wegmusiziert und durch lodernde Dankbarkeit ersetzt. Ich wollte während des Finales von Karl Lagerfelds Deutschland-Premiere am liebsten die Hand meiner geschätzten Kollegin Claire Beermann halten, die neben mir saß und die, das glaube ich sicher gesehen zu haben, ebenfalls mit Pipi in den Augen zu kämpfen hatte, als der gebrechliche Karl beim Finale schließlich in viel zu kleinen Schritten durch die Elbphilharmonie trippelte. Vor 84 irrsinnigen Jahren wurde er exakt hier geboren, in der Stadt Hamburg, die er mit 19 verließ, um die Welt einzuatmen. Es könne seine letzte Show sein, munkelte es munter als der (steitbare, urteure, aber auch grandiose) Austragungsort der diesjährigen Métiers D’Art Show bekannt wurde. Sinn machen würde dieser Coup schon. Welch ein Abgang! Würde sich hier etwa der Kreis schließen? Hat Karl Lagerfeld wirklich vor, gen Heimat zu segeln? Sich zur Ruhe zu setzen? Das Chanel-Zepter nach über 30 Jahren weiterzureichen? Für die Einen scheint die Sachlage klar, andere hingegen glauben keineswegs daran, dass „der König“ jemals freiwillig abdanken würde. Der Vertrag mit Chanel jedenfalls läuft auf Lebenszeit. Aufgrund seines außergewöhnlichen Talents, heißt es.
Zwar konnte das Rätsel um die Zukunft des Meisters noch immer nicht gelöst werden, aber eines steht fest: Karl Lagerfeld ließ sich noch niemals lumpen und diesmal erst Recht nicht, wo sich doch etliche Rohrspatzen ob der ungewöhnlichen Location-Wahl schon im Vorfeld recht skeptisch gaben. Die Elbphilharmonie! Wie soll das nur gehen?! Sehr, sehr gut sogar, wie sich schließlich herausstellen sollte. Zum Glück. Denn die diesjährige Show zur „Zwischensaison“ ist die erste der Geschichte, die in Deutschland präsentiert wurde. Vielleicht ließ Herr Lagerfeld sich deshalb so viel Zeit damit, weil er sich laut eigener Aussage überhaupt nicht als Deutscher, wohl aber „als Hanseat“ betrachtet (Vogue & ZEITMagazin). Zurück zu den eigenen Wurzeln also? Verdienter Weise, schließlich drehte sich das Tamtam bei den Métiers d’Art-Kollektionen bisweilen stets um Orte, die ausschließlich für Gabrielle „Coco“ Chanel wichtig und von Bedeutung waren. Salzburg etwa, Rom, Paris und sogar Kuba. Ganz so weit hatte ich es diesmal glücklicherweise nicht.
Nach knapp zwei Stunden im ICE und zwanzig Sekunden in besagtem Aufzug der sogenannten „A-List“, lasse ich mich erst einmal auf das hüfthohe Bett fallen. Ich muss verdauen, dass neben einer Grußkarte in Schnörkelschrift, einem Strauß weißer Rosen und bitterer Schokolade außerdem ein echter Hut auf einen jeden Gast im Hotelzimmer wartet. Genauer gesagt: Ein „Elbsegler“ – als Vorbote auf alles an jenem Abend noch Kommende.
Und das sollte ganz anders sein als erwartet. Mir schwante langsam, dass ich das Thema der nahenden Show mit meiner eigenen Garderobenwahl gänzlich verfehlt hatte. „Smart Casual“ lautete der freundliche Dress Code auf der Einladung, und Heidernei, was kam ich mir mit meiner Haar-Idee kurz klug und gewitzt vor! Ein bisschen auch wie Mozart, fast passend zur Location! Statt aber in Karls Sinne maritim dahin zu segeln, schwanke ich an diesem Abend vielmehr zwischen Turnierreiterin und Tokio. Da helfen auch die ausgeborgte Hose samt passender Tasche nicht. Wohl fühle ich mich trotzdem in meinem breitschultrigen Blazer. Obwohl ich beim Anprobieren der neuen Kopfbedeckung bemerke, dass an mir durchaus eine Matrosin verloren gegangen sein könnte. Und dann ging es los.
Nicht von dieser Welt
Dass Chanels Schauen-Inszenierungen immerzu atemberaubend pompös sind, weiß ich natürlich und das wusste ich auch gestern. Da wurde den Zuschauern etwa einst ein haushohes Space Shuttle präsentiert und man erinnere sich bloß mal an den Supermarkt, der sogar Milchtüten von Chanel und CC-Waschpulver anbot! Alles schön und gut und irre. Aber auf die Hallen der Elbphilharmonie war ich dennoch nicht vorbereitet. Man kann nicht anders als zunächst über eine Rolltreppe in der Länge eines Frachters zu staunen, die hin zu etlichen Bögen und Etagen führt, deren Wände an die Eierkartons in Proberäumen erinnern, bloß in viel vornehmerer Manier. Erst auf den zweiten Blick merke ich, wie genial diese Retrofuture-Architektur ist und wie stimmig in Hinsicht auf Karl Lagerfelds nautische Modevisionen: Die Geländer sehen aus wie die eines Kreuzfahrtschiffes von einem anderen Stern. Hamburg, Matrosenmützen, der Hafen, das Rotlicht, das Derbe, das Edle, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Alles ergibt plötzlich Sinn.
Es dauert, bis alle Platz gefunden haben. Umso schneller verliere ich die Fassung darüber, dass Tilda Swinton (in die ich mich später noch verlieben werde) nur wenige Sitze vor mir mit ihrem Zweitmann plaudert, während Lars Eidinger und Kristen Stewart vertraut wie alte Freunde wirken. Kaia Gerber sieht tatsächlich aus wie ihre Mutter Cindy Crawfort, denke ich, und: Wer um alles in der Welt sind all diese Menschen? Ich entdecke jedenfalls auch Lilly Rose Depp und frage mich, ob man sich als Tochter von Johnny überhaupt noch über irgendetwas wundert. Ich nämlich wundere mich pausenlos, im besten aller Sinne, über die Mode natürlich, aber nicht weniger über die Musik! Dieser Abend ist viel. Diese Location ist viel, die Eindrücke sind viel, die Emotionen sind viel zu viel. Vor allem viel schön. Und viel überwältigend, immer wieder, im Takt zu „La Paloma“, gestrichen, gezupft und geblasen vom anwesenden Kammerorchester.
Wer war noch da?
Ich mag vielleicht wenig durch Prominenz zu beeindrucken sein, gibt man mir allerdings ein Fernglas in die Hand, werde ich ganz munter. Zurück etwa zu Lars, diesem charmanten Teufel, der an diesem Nikolaus-Tag der besonderen Art offenbar eine Kontakt-Perlenketten trägt! Oder Lena Meyer-Landruth, die ausschaut wie eine junge Göttin, genau wie Ace Tee. Und da! Meine Lieblings-Hannah Herzsprung!
Von Lilly Rose Depp konnte ich übrigens, Fuchs wie ich einer bin, noch ein paar O-Töne mitschneiden. Habe natürlich gefragt – Danke, Vogue Taiwan!
Die Show
Aber nun, endlich, zum wichtigsten Teil dieser Chanelgeschichte – dem edlen Zwirn! Während andere Designer und Designerinnen rege ihre Pre-Spring Kollektionen zeigen, besinnt sich Karl Lagerfeld mit den Métiers d’Art Kollektionen regelmäßig auf die große Handwerkskunst zurück und damit zugleich auf ganze zwölf Betriebe, ohne die Chanel bloß ein trauriger Schatten seiner selbst wäre. Man stelle sich das vor: Wenn Desrues keine Knöpfe mehr für Chanel herstellen würde, wie schon zu Cocos Zeiten! Ohne Lesage gäbe es außerdem keine Stickereien und ohne Maison Michel weder Hüte, noch Ballonmützen! Was nach Detailarbeit klingt, ist dennoch seemeilenweit entfernt von Haute Couture und auch im Vergleich zur Prêt-a-porter noch mindestens eine ganze Ankerlänge tragbarer. Diesmal, so behaupte ich, sogar noch mehr als sonst. Ich bin regelrecht erleichtert darüber, dass das diesjährige Defilée mein Herz berührt, dass ich mir am liebsten gleich morgen ein paar der optischen Kinkerlitzchen abschauen würde – manchmal schwimmen Karl und ich nämlich geschmackstechnisch auf zwei ganz verschiedenen Erdhalbkugeln. Gestern Abend nicht – da plantschten wir viel eher in ein und derselben Suppe.
Nun haben wir bereits herausgefunden, dass Karl sich für seine neueste Kollektion zunächst am Naheliegenden bediente, dem heimatlichen Hafentreiben unterschiedlichster Epochen, an bärtigen Seemännern und Chanels Mutter Coco, die sich früh gegen stereotype Kleidung zu wehren wusste und das Stibitzen beim anderen Geschlecht salonfähig machte. Das sieht man etwa sehr deutlich an den allgegenwärtigen Cabanjacken, dem übergroßen Strick, den Matrosenkragen und sämtlichen herrlichen „Elbsegler“-Mützen, die damals, natürlich, ausschließlich dem Mann vorbehalten waren und heute sogar Tüll-verziert zur Abendgarderobe serviert werden. Überhaupt erzeugen allerlei Akzente wie Pailletten, Rüschen und Verzierungen in Anker-Manier eine ungeahnt ultra-feminine Haltung, die dennoch jedes Gendern infrage stellt. Karl erweitert das Verständnis von Maskulin und Feminin par excellence – man beachte an dieser Stelle bitte erneut, wie gut dieser Lars schon wieder im Tweedjäcken samt Perlenbehang ausschaut!).
Karl wäre ohnehin nicht Karl, hätte er nicht noch drei Mal um die Ecke und vor allem kommerziell gedacht, schließlich ist er ein Meister darin, jungen Frauen ebenso wie steinalten Damen jeden Modewunsch von den „Rouge Coco“ -roten Lippen abzulesen. Und so finden sich neben den Silhouetten der Handelsflottenarbeiter auch liebevolle Reminiszenzen an das 20. Jahrhundert (in dem Karls Mutter jung gewesen ist und großen Dampfschiffe die Häfen verließen) und das Übertriebene, in Form von Marie Antoinette Schuhen etwa, die für das jüngere Publikum bis über die Knie interpretiert wurden. Und dann sind da noch Hosenzüge, vor denen Marlene Dietrich gewiss auf die Knie gefallen wäre, Anspielungen auf das Rotlichtviertel und die Reeperbahn, auf das Hamburg der frühen 60er, auf die Welt der Swinging 60´s, in denen Beatnicks geboren und die Twiggies der Welt groß wurden, auf den stolzen Stil der Garçonnes und zuweilen sogar auf allerlei gehauchte Frivolitäten, die von einem Ohr ins nächste wanderten, während Matrosenchöre die Nacht beschallten.
Ein besonderes Augenmerk gilt wie immer dem Styling. Augen auf, denn hier wird geflochten und be-hütet als gäbe es kein Morgen mehr! Selbst zum Abendkleid, das möglicherweise auch ein Hochzeitskleid ist. Oh, und diese Matrosen-Säcke und Container-Taschen! All die Knöpfe und Broschen und Spangen und Ketten – ein Fest fürs Auge, zweifelsohne.
Die Party
Die Party war ein Spektakel, von dem ich mich niemals zu träumen gewagt hätte, das ich mir beim besten Willen nicht hätte ausmalen können, schon gar nicht in Anbetracht der Location, die normalerweise mit Helene Fischer und Skrillex beschallt wird. Aber da war sie wieder, die Chanel-Magie, die es (mit viel Geld) vermochte, aus der Fischauktionshalle einen Ort wie aus einem Märchenbuch zu machen, samt Seemannschor und klirrendem Geschirr, ganz so, als hätte man Hogwarts auf die Titanic verlegt.
(Modisch besonders inspiriert war ich übrigens von der wundervollen Bedienung:)
Hunderte von Kerzen, Brotkörbe und Backfisch, Wein aus Glasflaschen und Bänke aus Holz – ein munteres Treiben, in dem Eitelkeiten untergingen bis nur noch Ausgelassenheit übrig war. Und eine Tilda Swinton auf der Tanzfläche, die heller leuchtete als die vielen Birnen, die wie Sterne unter der eisernen Decke schwebten. Mal neben uns, mal hinter uns, mal mittendrin. Niemand hat so getanzt, niemand hat so gelacht, niemand kann überhaupt eine solche Aura haben, dachte ich. Außer Tilda. Die tatsächlich für einen kurzen Moment zu schweben schien, vorbei an den Bieren, den Matrosen und der Bar, durch den Rauch hinaus in die Nacht. Ich habe ihr hinterhergeschaut, bis zum Schluss. Und entschieden, zu bleiben. Weil ein erstes Mal oft das schönste Mal bleibt.
Danke, Chanel, danke Carolin und Luisa. Für einen Tag, den ich nicht vergessen werde.
– Pressereise –