Ich habe, wenn wir von kaschierenden Frisuren absehen und uns stattdessen ein Realitäts-abbildendes Emporsteigen meinerseits aus einem pitschnassen See vor Augen führen, einen auffällig flunderflachen Hinterkopf, wie der Opa. Weshalb mir formschöne, voluminöse Hinterköpfe meist sehr schnell und sehr positiv auffallen. Ist ja logisch. Woran es einem selbst mangelt, darin scheinen andere regelrecht zu ersaufen. Deshalb meine ich zum Beispiel auch, die Welt bestünde aus lauter supersymmetrischen, üppigen Mündern. Ich sehe sie wirklich überall, Lippen, die schmollen und spannen und saftig glänzen und verführerisch offen stehen. Vor allem in den Sozialen Medien, diesen kleinen Seelen-Teufeln.
Auffällig dabei ist zweifelsohne die mal mehr, mal weniger offensichtliche Beteiligung der Plastischen Chirurgie. Ich habe es ja auch zunächst nicht wahrhaben wollen, habe vorerst noch Mutter Natur und später Facetune hinter dem auffälligen Trend zum großen Mund vermutet, bis es mir nach ein wenig Recherche plötzlich dämmerte: Als seien Botox und Hyaluronsäure nicht ohnehin schon mordsmäßig populär, scheint die korrigierte Lippe inzwischen nicht nur salonfähig, sondern selbstverständlich geworden zu sein. Die Zahlen sprechen für sich. Achtet mal drauf. Irre!
Nur wagt (noch) niemand, darüber zu sprechen. Warum eigentlich? Sollte diese Form der Selbstoptimierung nicht langsam mal raus aus der Tabuzone rutschen, damit wir vernünftig über etwas quatschen können, das ja offenbar so viele von uns betrifft, auf unterschiedlichste Arten? Die einen machen es, die anderen sehen es, wiederum andere denken zumindest heimlich darüber nach. Vor allem, seit gespritzte Lippen oft richtig flott und überhaupt nicht mehr nach Chiara Ohofen aussehen. Aber Pustekuchen.
Manch eine Influencerin behauptet sogar derart vehement, niemals nachgeholfen zu haben, dass man die Welt nicht mehr versteht. Und sich fragt, wem das Geflunkere eigentlich nützen soll. Wären vor allem jüngere Follower*innen vorerst beruhigt, wenn sie wüssten, dass so viel „Perfektion“ meist aus der Ampulle kommt oder würden sie als Resultat gar vermehrt selbst zur Ampulle greifen? Ich weiß es nicht. Was ich aber vermute ist, dass Lügen kurze Beine haben. Weil die Sachlage nunmal oftmals so schrecklich eindeutig ist. Weil unübersehbar! Oder gar: Weil sich mittlerweile sogar Freundinnen anfangen zu ähneln, sich einander optisch annähern, wie Hunde und deren Besitzer. Da werden Wangenknochen hochgeschoben, Kinnpartien akzentuiert und Augenbrauen angehoben. Aber eben auch: Lippen aufgespritzt, wie am Fließband. Bevor zusammen posiert wird. So weit, so gleichgeschaltet. Und schön?
Was mich an all dem gerade nämlich überaus stutzig macht, ist die Tatsache, dass sich auch mein Ästhetikempfinden parallel zu dieser Entwicklung zu verschieben scheint. Und so kommt es, dass ich mich seit geraumer Zeit wenig reflektiert selbst in die Höhle des Schönheitswahn-Löwen begebe und nicht selten vom Antlitz ausgerechnet jener Frauen schwärme, deren Lippen gigantisch sind, mal gottgegeben, mal käuflich erworben. Aber immer diesem neuen Ideal entsprechend. Tolle Wurst. Und es kommt noch dicker. Naja, zumindest beinahe.
Schon fünfunddreißig Mal habe ich innerhalb des vergangenen Jahres schlussendlich darüber nachgedacht, mir auch mal so eine halbe Ampulle Hyaluronsäure zu gönnen, gegen diese schmalen und schiefen Scheißerchen in meinem Gesicht, die nur morgens propper scheinen, immer dann, wenn sie genauso aufgedunsen sind wie meine Nase. Ein Phänomen, das mit dem Alter kam. Und zumindest am Mund gar nicht mal so daneben aussieht. Morgens um sieben leckte ich also regelmäßig Botox-Blut. Und fragte mich, ob man mit so einem Aufwach-Selfie nicht mal vor einer stadtbekannten Schönheitschirurgin herum wedeln könne. In der festen Überzeugung, ich sähe dann „besser aus“. Es wäre ja auch so einfach gewesen! Und verdünnisiert sich im Zweifel von ganz allein wieder, nach etwa sechs Monaten.
Mein Freund drohte mit Scheidung, obwohl wir noch nicht einmal verheiratet sind. Meine beste Freundin rollte nur mit den Augen und gab zu bedenken, dass ich nicht gerade ein Mensch sei, der Dinge nur in Maßen tut. Ich verteidigte das Aufblasen von äußerlichen Merkmalen dennoch, fand mich aber trotzdem immer wieder in einem absonderlichen Zwist wieder: Zwischen großem Neid und brunnentiefem Mitleid.
Es war ein Freitag als ich im Soho House auf ein Meeting wartete und an einem Tisch bekannter Internetmenschen vorbei schlich, geduckt, weil mein Hirn noch nicht Smalltalk-fähig war. Ich nahm auf einem Sofa einige Meter weiter hinten Platz und lugte noch einmal heimlich herüber, als ich einen gigantischen Stich im Herzen spürte. Mir tat das fast körperlich weh. Diese Schmollmünder zu sehen, die sich ähnelten wie Fruchtgummi aus der Fabrik. „Ihr seid so kluge Menschen“, dachte ich da. „Aber eure Lippen machen mich unglaublich traurig“. Das war der Moment, in dem ich mich endlich wieder daran erinnere, dass ich irgendwann einmal zufrieden mit mir war. Dass ich mich lieb hatte. Mit all meinen Makeln. Und da wusste ich, dass ich die Falsche für so etwas bin.
Verwerflich fand ich diese Art des Fudelns, zumindest bei anderen, dennoch nie, weil Privatsache. Stichwort: Selbstbestimmtes Handeln. Und Choice Feminism. Aber genau hier schlittern wir ja geradewegs rein in die moralische Bredouille. Denn handeln besagte Frauen (und Männer, das darf man nicht vergessen!) tatsächlich zu ihrem eigenen Wohl? Manche schon, zweifelsohne. Denn eine subjektiv empfundene Verbesserung des Äußeren kann gut für die Seele sein – ebenso schadhaft kann allerdings die Sucht nach mehr werden. Oder das enttäuschende Gefühl, „dass es noch immer nicht reicht“. Es gilt also, weise abzuwägen. Und vor allem: Den Überblick zu behalten. Zu merken, wann es „zu viel“ wird. Und auch Freundinnen darauf hinweisen zu dürfen, wenn eine bestimmte Grenze überschritten wird. Das übrigens frage ich mich neuerdings sehr häufig: Wo sind die lieben Menschen im Umkreis all jener sogenannten Influencer*innen, deren gewaltigen Münder mittlerweile nah an der Grenze zum Eigenleben kratzen? Warum sagt denn niemand was? Auf respektvolle, besorgte, höfliche, unterstützende Art und Weise.
Achja. Geschmacksache. Und Privatsache. Aber ist es das wirklich? Kann es das überhaupt sein, wenn Umfeld und Medien doch ganz offensichtlich einen enormen Anteil haben an dieser Entwicklung, wenn sie Entscheidungen maßgeblich beeinflussen? Niemand ist doch frei von Zweifeln, die inzwischen ja sogar hauptberuflich von Konzernen geschürt werden. Frei von Schönheitsidealen, die befeuert werden durch Follower und Kooperationen und fragwürdige Vorbilder. Ich jedenfalls werde das Gefühl nicht los, dass auch ich diesem Brainwash beinahe auf den Leim gegangen wäre.
Dass unterschiedlichste Medien, Models und Beauty-Trends uns klammheimlich des eigenen Selbstwertgefühls berauben. Uns glauben lassen wollen, es würde nur besser werden, entsprächen wir diesem ganz bestimmten Prototypen einer anziehenden Frau. Komisch, diese Gegenbewegung. Wo doch alle Zeichen auf Pop-Feminismus stehen, wie kann es da sein, dass ein bestimmtes Sexualmerkmal wieder derart in den Fokus rückt. Selbst die Posen passen dazu. Natürlich ist dieser halb geöffnete Mund samt Giraffenhals und in den Himmel gereckter Nase ja nun wirklich nicht.
Gewiss ist das Optimieren von Gesichtern, die eigentlich längst schön sind, bloß ein weiteres Symptom unserer Zeit, genährt durch Gier. Man will im schlimmsten Fall ja nicht nur hübsch sein, sondern hübscher als die anderen. Und das ist deshalb so schwer, weil wir ja immer irgendjemanden für hübscher halten als uns selbst. Was uns wiederum leicht vergessen lässt, dass wir uns irgendwann einmal genau so mochten, wie wir waren. Damals, als das Vergleichen mit dem Rest der Welt noch kein Volkssport war – powered by Instagram.