Neulich hat mich jemand, den ich nur wie aus dem Ei gepellt kenne, unverhofft im Supermarkt angestrahlt, an meinem T-Shirt gezupft und dabei sowas gesagt wie „Ach, ich mag das ja, dass du immer noch in sowas rumläufst.“ Ich wollte noch schnell fragen „Worin denn genau?“, als ich schon ganz von allein bemerkte, dass die Naht dieses grauen Lappens mit Ärmeln wohl gerade dabei war, sich aufzulösen. Also antwortete ich, auf ein großes Balenciaga-Logo starrend, nur „Oh, danke“ und war gleichzeitig heilfroh darüber, dass wir uns frontal gegenüber standen, denn auf meinem Rücken baumelte außerdem ein praktischer Wanderrucksack mit Grasflecken drauf, aus dem etliche Flaschen Leergut heraus lugten. Ich war längst im Begriff, mich höflich aus dem Staub zu machen, da flog mir schon wieder diese tätschelnde Hand entgegen, diesmal landete sie auf meiner Schulter.
„Du hast doch auch diesen dicken Jeep, ja weißt du, ich habe just eine Gehaltserhöhung bekommen und nun denke ich auch darüber nach, weil…“ – „Nein“, unterbrach ich die aufgeregte Stimme, „ich hatte einen Jeep, aber der war mir zu groß und dreckig und jetzt fahre ich nur gelegentlich den klapperigen Nissan meines Freundes, normalerweise aber Fahrrad.“ Stille. „Aber willst du denn kein neues Auto, so ein schönes?“ -„Irgendwann vielleicht, aber gerade brauche ich keins“. Noch mehr Stille. „Achso, ja siehst du mal, ich hätte jetzt gedacht, da käme bald das Cabriolet, ich meine, du könntest ja!“ Ulkig, dachte ich. Mir war in letzter Zeit schon häufiger aufgefallen, dass viele Menschen meinen, man müsse, sobald man kann. Was auch immer. Eine dicke Karre fahren, zum Beispiel. Designerhandtaschen bis zum Abwinken kaufen und teure Kleidung. Oder umziehen in eine größere Wohnung, obwohl es der kleineren an nichts mangelte. Außer Außenwirkung.
Dass jemand aber freiwillig weniger besitzt als möglich wäre, dass manche lieber weiter zelten und echte Sterne zählen, dass es Leute gibt, die mehr in gewissen Bereichen tatsächlich für weniger halten, das scheint in unserem Prestige-Wunderland nur schwer vorstellbar, so schwant mir. Ich kenne das ja! Wenn auch im Kleinen. Dieses Motto „Jetzt aber“! Es tut schließlich manchmal auch gut, sich selbst eine Freude zu bereiten oder erhobenen Hauptes einen (materiellen) Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen. Und klar ist auch: Prioritäten können sehr, sehr unterschiedlich gesetzt werden, weil unterschiedlichen Personen unterschiedliche Wonnen wichtig sind, deshalb: Nichts gegen Luxus, das muss jeder selbst wissen, wirklich. Nur die Selbstverständlichkeit der Gleichung „Mehr Einkommen, mehr alles“ kommt mir zunehmend schräg vor. Ganz grundsätzlich gilt doch offenbar noch immer: Wer hat, der kann (und sollte). Und zwar vollkommen ohne Sinne und Verstand. Meistens. Ich erinnere mich noch genau daran, was ich dachte, als ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal keine Steuern nachzahlen musste, weil die Steuerberaterin zum Fuchs mutiert war. Nämlich: Was kaufe ich denn jetzt? Vielleicht ein Rad, das mehr Gänge hat? Einen Tisch, der schicker ist? Einen Kühlschrank, der mit mir spricht? Oder einen Duschkopf mit Licht-Therapie? Es gibt ja immer ein „teurer“, was bloß nicht immer besser ist. Oder gar glücklicher macht. Und genau da liegt ja der Knackpunkt. Hätte ich mich an besagtem Samstagmorgen besser gefühlt, hätte ich die Pfandflaschen im Gucci-Shopper spazieren getragen? Mitnichten. Und sportlicher würde ich durch ein neues Fahrrad auch nicht werden. Aber darum geht es diesmal gar nicht. Sondern um die Höher-Schneller-Besser-Problematik, die weniger mit unserem Grips als vielmehr mit unserer Sozialisierung zusammen hängt. Weshalb wir, wenn wir uns nicht hin und wieder an die Nase greifen uns unsere Wünsche justieren, Gefahr laufen, bloß das zu tun, was andere von uns erwarten, statt exakt das, was für uns wahrhaftig Freiheit, Glück oder meinetwegen auch Komfort bedeutet.
Noch ein kleines Praxisbeispiel aus meinem eigenen Leben: Seit vier Jahren wohne ich nun in meinem prächtigen Laminat-Dachboden und auch nach mehr als eineinhalb Tausend Tagen werde ich nicht müde, die nicht-vorhandenen Dielen zu bejammern. Und ich kann euch noch nicht einmal sagen, ob das tatsächlich daran liegt, dass das Plastik unter den Füßen so unerträglich ist oder daran, dass ich einfach beigebracht bekommen habe, dass das Plastik unter den Füßen unerträglich ist. Was wiederum dazu führt, dass ich in regelmäßigen Abständen von ganz anderen, glücklicherweise sehr weit entfernten Bekannten auf ganz andere Weise geneckt werde. Das klingt dann so: Schreib doch mal mehr, dann kannste dir auch Holzplanken leisten! Oder: Also dass du noch immer da am Hermannplatz wohnst, das will mir echt nicht einleuchten! Ganz zaghaft, aber fordernd wird dann häufig noch ein „Du könntest dir das doch leisten…?“ nachgeschoben. Nun. Auch das ist wieder Auslegungssache, ich bin nämlich schon der Meinung, dass man Geld klug verbrauchen, aber auch dumm verprassen kann. Es ist nur gar nicht so leicht, sich davor zu schützen.
Schon klar, wir behandeln hier das reinste Erste-Welt-Privileg. Aber eines, das durchaus krank machen kann. Das dazu beiträgt, dass Menschen im Hamsterrad des Konsums umher strampeln, sich selbst und die eigenen Träume vergessend, um dann irgendwann mit Burn Out wieder ausgebrochen zu werden zum Beispiel. Weil sie sich mit den Jahren selbst eine Art Gefängnis erschaffen, durch all die regelmäßigen Kosten, durch gesteigerte Erwartungen. Wieso so viele von denen, die plötzlich mehr verdienen, auch stets und stetig mehr brauchen, ist ein bekanntes Kapitalismus-Rätsel, aber eben auch eines, das sogar im Kleinen vergammelte Früchte trägt. Weil es die, die nicht mithalten können, glauben lässt, so glänzend und pompös sehe Glück aus. Weil es die, die eigentlich nicht können, dazu verleitet, über die eigenen Möglichkeiten hinaus zu gehen. Weil es uns alle vergessen lässt, was wir denn eigentlich wirklich vom Leben wollen. Weil irgendwann vor allem wichtig ist, was „man denn so braucht“. Was andere für angebracht halten. Was Fremde denken. Im schlimmsten Fall fehlt es einem dann irgendwann tatsächlich an gar nichts mehr. Außer an dem, was vielleicht am wichtigsten ist: Zufriedenheit. Die bleibt allerdings unbezahlbar. Und vor allem in unerreichbarer Ferne, solange wir nicht anfangen, wieder viel mehr auf uns selbst zu hören. Genau das habe ich neulich mal wieder ausprobiert, irgendwo draußen auf dem Land, auf einem kleinen Hof mit vielen Freunden und wenig Krimskrams. Klingt banal, hilft aber. Denn seither habe ich weniger Angst davor, weniger zu haben. Weil ich eigentlich nichts brauchte. Außer, ihr ahnt es: Uns.