Ich bekomme manchmal böse Nachrichten, weil ich die Früchte des Gendermarketings für überaus faul halte. Die wütenden Schreibenden meinen dann zum Beispiel, Jungs „seien eben einfach so“ und Mädchen anders, sie denken außerdem, ich würde meinem Sohn ganz bestimmt jeden Spaß verbieten, womöglich sogar Autos oder Schießgewehre. Nun. Nachgeahmte Waffen gibt es bei uns wirklich nicht, auch keine Wasserpistole, dafür aber Wasserspritzen aus Schaumstoff und selbstgebastelte Lego-Schleudern. Das aber hat vielmehr mit der Politik und auch mit der Wirklichkeit auf dieser Welt zu tun als mit meinem unbedingten Willen, meinen „Jungen zum Mädchen zu dressieren“. Nein, das will ich ganz bestimmt nicht. Ich will mein Kind nämlich zu überhaupt gar nichts machen oder formen. Ich möchte ihn ganz einfach zu jemandem werden lassen, der nicht nur frei ist, sondern auch eigenständige Entscheidungen treffen kann und darf – so weit das eben möglich ist, in einer Gesellschaft, die ja immer noch zu Hauf an alten Rollenbildern klebt.
Was während der letzten Jahre, Lio wird im September vier, mitunter dazu führte, dass das Kind im Sommer fröhlich Rock trägt, während auf bulligen Baggern menschenhohe Löcher gebuddelt werden. Weil das so luftig und lustig ist. Dazu, dass der rote Nagellack auf den Zehen immer sitzen muss, wenn die Rutsche barfuß und verkehrt herum erklungen wird oder die rosa Glitzerknete zum Rennschlitten gerollt wird. Weil meine Nägel ja auch so schön funkeln. Oder dazu, dass wir nun jeden Abend in den „Lokschuppen“ statt ins Bettchen trudeln, um die Geschichte von Prinzessin Pfiffigunde und danach das Buch über die schönsten Zugstrecken Europas zu lesen und schließlich ins fliederfarbene Bettlaken sinken, über dem Papierflugzeuge kleben. Weil Lio das eben alles mag. Weil er keine Unterschiede macht, weil er unbefangen ist und (noch) nicht von der Gesellschaft irritiert. Weil er ein kluger Kerl ist, der sich nicht verbiegen muss. Nicht für mich oder irgendwen.
Lio erklärt uns inzwischen selbst, er sei „ein großer Junge“. Früher hat er das nicht getan. Da hat er immer gesagt: Ich bin ein Mädchen und ein Junge und ein Abschleppwagen. Und ich antwortete nur: Sei, was du willst, das ist mir egal. Du bist mein Kind und mein Glück, alles andere musst du allein herausfinden. Das hat er getan, irgendwann, ganz klammheimlich. Als er sich gegen die Puppe und auch gegen den Einkaufsladen, dafür aber unbedingt für das Auswendiglernen sämtlicher Eisenbahnmodelle entschied. Erst schmunzelte ich, weil ich doch stets annahm, Lio würde aufgrund seines freien Wesens ebenso mit Puppen spielen. Bis ich mich selbst korrigieren musste: Wer behauptet denn überhaupt, Puppen seien „was für Mädchen“ und Schienen eindeutig „was für Jungs“? Und so tapste ich noch ein paar Mal in die Gender-Falle, weil ich ja selbst ganz schön viele Klischees im Kopf festsitzen hatte. Wie gut, dass Kinder einem vor allem sehr geduldig dabei helfen, „wirklich groß“ zu werden, im Kopf. Und klüger. Und überhaupt. Ich bin jetzt, dank Lio, also tatsächlich ein bisschen viel schlauer. Neuerdings aber auch strenger. Und das gefällt mir am Mamasein überhaupt nicht.
Neulich etwa, da wurde ich zu einem Gespräch in den Kinderladen gebeten. Lio befand nämlich, er könne fortan einfach „Thomas“ heißen, so wie der irre Zug mit dem Gesicht aus den Heften vom Hauptbahnhof. Lio?! Keine Reaktion – bloß Augenrollen. Auch allen anderen Kindern gab er freudig Zugnamen: Wilma wurde zu Timothy, Bo zu Edward, Emir zu Rosie und die Erzieherin nannte er „der langsame Stephen“. Das ging zwar allen auf den Keks, war aber nicht schlimm. Nur beim Yoga, da wurde mein Sohn zum unerwünschten Störenfried. Lio dampfte nämlich, so erklärte man mir, stets sehr eifrig durch die gesamte Halle, drehte noch ein paar Runden im Affenzahn um sämtliche Matten herum (während alle anderen schon brav auf Anweisungen warteten), um schließlich, an seiner Haltestelle angelangt, bei jeder Bewegungen zu pfeifen und hupen wie eine rostige Dampflok. Dreibeiniger Hund – tschuuutschuu, Standwaage – tschuu, der Fisch, pfuuuuu. Ich musste lachen bei diesem Gespräch, woraufhin man mir recht deutlich verklickerte, dass das jetzt aber wirklich gar nicht mehr so witzig, sondern durchaus lästig sei. Da stand ich dann also, wohlwissend, dass ich Pflichten zu erfüllen, aber auch ein Kinderherz zu brechen hatte.
Zum ersten Mal seit Langem kam ich mir überhaupt nicht mehr erwachsen, sondern wie eine Verbündete vor. Am Nachmittag sagte ich: „Thomas, wir müssen reden.“ Der entgegnete: „Aber Percy, ich bin gerade wirklich beschäftigt – da warten wichtige Aufträge auf mich.“ Dann tat ich etwas pädagogisch mit Sicherheit Zweifelhaftes. Ich kniete mich runter zu Lio, auf Augenhöhe, und erzählte ihm, dass ich heute ein wenig Ärger bekommen hatte. Dass ich ihn wirklich verstehen könne und seine Pfeife ganz großartig klinge, und dass ich es hassen würde streng zu sein, weil ich nunmal gar nicht daran gewöhnt sei, zu schimpfen, weil Lio ja so eine liebe Lok sei. Aber dass ich nunmal auch seine Mama sei und Mamas manchmal ein ernstes Wörtchen mit ihren Kindern reden müssten, damit es nicht noch mehr Ärger gäbe. Dass Erwachsene manchmal komisch sind und dass Rücksichtnahme trotz allem aber eine wichtige Regel sei. Dampfen und Pfeifen beim Yoga hingegen wirklich so dermaßen nervig, dass den anderen Zügen dabei die Kessel platzen könnten. Und das wolle ja niemand! Lio schaute mich nur schräg an und sagte: „Mama, du verrückte Nudel! Schon kapiert.“ Ich war ein bisschen baff, sagte danke und verschwand in der Küche, um uns heimlich ein Stück Schokolade aus dem Schrank zu klauen. Empathie funktioniert offenbar wirklich. Das Problem war damit in Windeseile und sogar nachhaltig gelöst. Nur ist es natürlich nicht immer so einfach. Manchmal hält sich Lio sogar die Ohren zu, wenn ich ihm wieder und wieder erkläre, weshalb es wirklich nicht in Ordnung ist, andere mit Sand zu bewerfen, egal wie sehr sie nerven (obwohl ich das manchmal auch gern tun würde, denke ich dann).
Am schlimmsten finde ich mich als Mutter aber, wann immer ich aus Versehen sage: Das macht „man“ so“ Oder eben nicht! Aufstehen, bevor alle anderen aufgegessen haben zum Beispiel. Als ich das eine Zeit lang forderte, entgegnete mein Sohn irgendwann: „Mama, mir ist langweilig, wenn ihr so viel quatscht und esst, ich bin doch fertig! Wieso darf ich nicht spielen und euch in Ruhe lassen und danach spielen wir dann wieder alle zusammen?“ Tja. Gute Frage. Genau so machen wir das seitdem, wenn wir Zuhause sind. Zusammen Regeln entwicklen, die allen logisch erscheinen – das schaffen wir mittlerweile meistens. Trotzdem brach mein Herz neulich dann doch. Da hat Lio nämlich gerufen: „Blöde Mami!“ Ungefähr hundert Mal hintereinander. Irgendwann wurde ich sogar mit dem Kuschelteddylappen beworfen. „Blöde Mami! Voll blöde Mami! Kackiarsch!“ Da wurde ich sauer, ich hatte nämlich nichts weiter getan, als Hilfe beim Aufräumen des Spielzeugchaos einzufordern. Wieder versuchte ich es mir der Empathie-Schiene: „Lio, ich bin eine Mama, deshalb muss ich manchmal streng sein, aber ich habe überhaupt keinen Bock da drauf. Los, komm jetzt.“ Keine Reaktion. So, was nun? Laut werden will ich nicht, also richtig laut. Ich quasselte also weiter und erklärte pausenlos. Brachte nichts. „Mir doch egal.“ Eine Drohung folgte: „Ich lese dir gleich keine Geschichte vor!“ Ups, dachte ich. Das ist auch keine Lösung. Also nochmal von vorn. Wieder: Blöde Mami! Bis ich rief: „Selber! Blöder Lio!“ Und mich schon wieder überhaupt nicht erwachsen fühlte. So ging das hin und her, ein paar Minuten lang. Als sei ich selbst drei Jahre alt, pöbelte ich irgendwann: „Lio, guck, ich kann sogar von hier hinten aus die Autos treffsicher in die Kiste werfen und du sitzt da nur rum wie ein fauler Stinker!“ Ehe ich mich versah, legte der Kerl schon los. Ein Auto nach dem anderen purzelte schließlich dorthin, wo es hin gehörte. So schnell hatten wir noch nie für Ordnung gesorgt. „Und jetzt entschuldigen wir uns“, sagte ich. „Ich fange auch an: Entschuldigung, dass ich gesagt hab, du bist doof, Lio.“ „Entschuldigung, Mama.“ Pause. „Mama, warum habe ich eigentlich gemeckert?“. „Na weil Kinder und Erwachsene sich gar nicht so unähnlich sind“, erklärte ich. „Das nennt man mal Trotz und mal Überforderung. Ist aber eigentlich das gleiche. Wenn du nochmal sauer wirst, dann sag es mir einfach. Dann gehen wir auf den Balkon und schreien zusammen eine Runde was das Zeug hält.“
Ich erzähle von diesem Moment vor allem, weil er mir gezeigt hat, dass Menschsein und Mamasein eben auch bedeutet, manchmal nicht weiter zu wissen. Oder genervt zu sein. Oder etwas Falsches zu tun. Das ist nicht gut, kann aber passieren. Und wenn es passiert, dann gilt es eben, im besten aller Sinne wirklich erwachsen zu handeln. Indem man zu dem steht, was man gesagt oder getan hat, zum Beispiel. Und sich genauso erklärt wie entschuldigt. Wir sind ja schließlich allesamt keine Roboter-Eltern. Und Kinder überhaupt kein bisschen dumm. Sie verstehen sogar viel mehr als wir meinen, schwant mir. Deshalb ist der Respekt voreinander wohl auch so wichtig. Ich glaube sogar, es war Jesper Juul, der irgendwann einmal geschrieben hat: Wir müssen Autoritäten sein, ohne autoritär zu sein. Wie genau das funktionieren soll, ist mir hin und wieder zwar selbst ein Rätsel, aber der Grundsatz scheint einleuchtend. Deshalb arbeite auch ich jeden Tag daran, für Lio jemand zu sein, der eigene Entscheidungen trifft und frei ist. Aber eben auch immer da. Schlechte Laune etwa versuchen wir stets gemeinsam zu meistern. Was leider immer wieder dazu führt, dass ich sämtliche Vorsätze mir nichts dir nichts über Bord werfe, vor lauter Liebe und Mitgefühl. Kekse helfen bei mir ja auch gegen Kummer. Nur weiß ich, im Gegensatz zu Lio, weshalb man nicht allein von Keksen überleben kann. Vielleicht ist das ja das Geheimrezept, wenn es um diese ominöse Erziehung geht: So wenig wie möglich, so viel wie nötig? Keine Ahnung. Aber ich bin mir ganz sicher: Perfektionismus kann ganz bestimmt nicht die Lösung sein.