Irene Moessinger schiebt sich die Brille ins Haar. Dann wieder zurück auf die Nase. Sie kneift die Augen zusammen, tippt auf ihrem Handy herum. „Ich kann Ihnen das zeigen“, sagt sie. Doch erstmal muss sie erzählen: In Berlin fahre sie immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln und steige oft am Kottbusser Tor um. Und da gäbe es nun fast jeden Abend ein Konzert, unten, am Bahnsteig. „Fantastisch“, findet Moessinger das: „Wie die Musiker die Leute animieren! Ich lasse jedes Mal drei, vier, fünf Bahnen fahren.“ Irgendwann käme dann immer die Polizei, die Musiker*innen müssten aufhören. Aber am nächsten Abend ginge es weiter. „Das ist Berlin“, sagt Irene Moessinger, „es überrascht mich immer wieder“. Die Suche nach dem Video, das sie bei einem der Konzerte gemacht hat, gibt sie auf.
Die 68-Jährige hat ein Buch geschrieben, über sich, über Berlin. Berlin liegt am Meer heißt es und Moessinger freut sich über den Kommentar, der Titel sei erstmal überraschend. Sie sitzt im Büro ihres Verlags in Berlin, eine zierliche Frau mit Kurzhaarschnitt und verschmitztem Lächeln, deren Redeweise berlinerisch eingefärbt ist. Den ganzen Tag lang hat sie Interviews gegeben, sie ist sowas wie eine Berliner Institution, die Frau, die das berühmte Tempodrom gründete – wenn die eine Autobiografie vorlegt, ist das Interesse groß. Auch, weil die Sache mit dem Tempodrom damals so unschön endete. Aber der Reihe nach.
Kein Business-Plan, keine Corporate Identity
Irene Moessinger ist Anfang der 1970er nach Berlin gekommen – es war ihr dreizehnter Umzug. Vorher, so schreibt sie in ihren Memoiren Berlin liegt am Meer, habe sie das Gefühl des „Nicht-Ankommens“ nur zu gut gekannt. Geboren wird Moessinger 1949 in Frankfurt am Main, die Eltern trennen sich bald. Die Mutter beschließt, mit ihren beiden Töchtern nach Andalusien zu ziehen, ihren fünften Geburtstag feiert die kleine Irene schon in ihrem neuen spanischen Zuhause. Irene ist ein schüchternes Kind, das sich an seiner großen Schwester Yvonne orientiert. Heute sagt Irene Moessinger: „Ich bin nicht mit einem selbstverständlichen Existenzrecht auf die Welt gekommen. Meine Schwester ist immer vorangegangen, ich hinterher. Aber solche Menschen, Menschen wie ich, sind ja später meistens diejenigen, die was machen. Weil man immer wieder zeigen muss, dass man da ist.“ Von Andalusien geht es für die Familie Ende der 1950er zurück nach Deutschland, die Schwestern besuchen ein Internat in Baden-Württemberg, später lebt die Familie am Bodensee. Nach einem kurzen Zwischenstopp in München zieht Irene Moessinger Anfang der 1970er nach Berlin. Dort lebt sie im Georg-von-Rauch-Haus, einem besetzten ehemaligen Schwesternwohnheim in Kreuzberg, feiert, demonstriert, engagiert sich politisch.
Im Urban-Krankenhaus macht sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie wird Mutter. Und dann kommt das Tempodrom. „Als wir damit angefangen haben, war das ganz anders als heute“, sagt Irene Moessinger. „Wir hatten Ideen – vielleicht auch Visionen – und die haben wir umgesetzt, sofort. Da gab’s keinen Business-Plan keine Corporate Identity. Das war auch die Gnade der Anfänger, der Naiven, aber auch der Mutigen. Heute hingegen ist der gesellschaftliche Druck, der auf jungen Leuten lastet, wesentlich größer.“ Ein strenger Blick über den Brillenrand hinweg: „Aber die lassen sich auch zu viel gefallen!“ Das Tempodrom entsteht 1980 zunächst als alternative Spielstätte auf der Westseite des Potsdamer Platzes, fast direkt an der Mauer. Die Idee kommt Irene Moessinger beim Spielen mit ihrer Tochter. In Berlin liegt am Meer schreibt sie: „Sie sieht einen Zirkus. Zelte, Wagen, Tiere und viele Menschen. Eine Schlange an der Kasse. Ausverkaufte Ränge. Letzte Vorbereitungen im Backstagezelt. Das Programm beginnt: Rock’n’Roll begleitet die Darbietungen. Ein Kabarettist führt durch den Abend. Artisten schwingen sich durch die Zirkuskuppel, Fools bringen die Menschen zum Lachen, noch nie gesehene Tierdressuren erstaunen, und am Schluss tanzen alle, das Publikum gemeinsam mit den Akteuren, bis die Beine müde werden.“
Geld? Nicht so wichtig
Moessinger steckt ihre Erbschaft in das Projekt, in den Medien ist sie nun die „Krankenschwester, die ihren Traum realisiert hat“. Moessinger schüttelt den Kopf: „Das Tempodrom ist ja aus einer Bewegung entstanden, das war ja nicht ich alleine. Und ich glaube, unsere Leistung war, dass wir so viele Menschen zusammengebracht haben.“ Im Laufe der Jahre entwickelt sich das Tempodrom zu einer Kultstätte, es ist Avantgarde, eine Mischung aus Zirkus, Varieté und Rockpalast. Künstler*innen aus der ganzen Welt treten dort auf: Bob Dylan, Nina Hagen, Artist*innen, Kabarettist*innen und jede Menge Tiere – Pferde sind schon immer Irene Moessingers Leidenschaft gewesen. Das Tempodrom geht auf Tour, bietet Mitmachzirkus für Kinder an. „Diese Kraft, die wir hatten“, sagt Moessinger, „die war unglaublich.“ Mehrfach zieht das Tempodrom um, finanziell müssen Moessinger und ihre Partner*innen sich immer wieder was einfallen lassen. Ums Geld geht es ihnen dabei aber sowieso nicht, „es war mehr Leidenschaft dabei“. Bis es dann eben doch ums Geld geht.
2001 wird das Neue Tempodrom auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs eröffnet, ein Betonbau in Gestalt eines Zirkuszeltes. Die Stadt Berlin hatte sich gewünscht, dass das Projekt weitergeführt wird. Finanziert wurde der Bau durch staatliche Zuschüsse, private Spendenmittel sowie eine Entschädigungszahlung. Die geplanten Baukosten wurden dabei überschritten, der zuständige Stadtentwicklungssenator von der SPD trat zurück. Obwohl das Tempodrom schwarze Zahlen schreibt, kommt es 2004 zur Insolvenz des Besitzers – Moessinger hatte eine Bürgschaft hinterlegt, die nun fällig wird. Im Juli 2005 wird sie gezwungen, die Leitung des Tempodroms abzugegeben, später muss sie sich mit ihrem Co-Geschäftsführer Norbert Waehl wegen Untreue vor Gericht verantworten. Sie wird freigesprochen, aus „erwiesener Unschuld“ – ein Freispruch erster Klasse. Vom angeblichen Skandal ist nichts übrig geblieben. Darauf angesprochen überlegt Irene Moessinger zuerst, spricht dann ruhig, hält immer wieder inne. Man merkt, auch heute noch geht ihr das Ganze nahe. „Das war schon hart. Wir haben ja alles gegeben für das Neue Tempodrom, obwohl das schon nicht mehr ‚unser‘ Ding war. In nur eineinhalb Jahren wurde das gebaut und heute sagen alle: Was, das hat nur 31 Millionen gekostet? Damals wurde das einfach als Politikum benutzt.“ Moessinger runzelt die Stirn. „Ich glaube, das ist das Schlimmste, was einem passieren kann.
Wenn einem plötzlich Unlauterkeit vorgeworfen wird und man sich nicht wehren kann.“ Sie sei immer die Tolle, die Beliebte gewesen – und plötzlich nicht mehr. Irene Moessinger hat damals begriffen, wie wichtig es ist, sich unabhängig von der Meinung anderer zu machen, den eigenen Wert zu begreifen.
Das Meer ist Heimat
Heute wohnt sie im Berliner Umland, bietet Pferdetherapien für Kinder und Erwachsene an. Leicht gefallen ist ihr diese Umorientierung nicht: „Nach Ende des Prozesses war ich erst krank und dann arbeitslos. Ich hatte ein wirkliches Tief – aber auch ein wunderbares soziales Netz.“ Ihre Buch Berlin liegt am Meer ist deshalb nicht nur Nacherzählung, sondern auch Aufarbeiten. Moessinger schreibt über das Vergangene in der dritten Person, so, als würde sie sich selbst von außen betrachten, und ordnet das dann wiederum aus der Ich-Perspektive ein. Sehr poetisch ist das, sehr ehrlich und persönlich. Sie ist gereist für das Buch, hat für sie wichtige Orte besucht, alte Weggefährt*innen getroffen. Und warum nun dieser Name – Berlin liegt am Meer? Irene Moessinger lächelt ihr verschmitztes Lächeln: „Genau wie in Berlin fühle ich mich im Mittelmeerraum zu Hause. Die Gerüche, das Meer… Das Meer ist immer Inspiration gewesen, auch beim Schreiben. Und Berlin war eben auch immer Inspiration!“ Im Buch bringt sie das auf die simple Formel: „Das Meer ist Heimat. Berlin ist Heimat. Berlin liegt am Meer.“
Ist sie denn immer noch die Krankenschwester, die ihren Traum verwirklicht hat? War sie das jemals? „Ich bin eben auch nur die Einzelteile meiner selbst“, sagt Moessinger. „Dazu gehört die Krankenschwester, das Tempodrom, dazu gehören die Pferde, und so weiter.“ Mit dem, was der Kabarettist Arnulf Rating über sie schreibt, kann sie sich aber identifizieren: Sie sei eine „unmögliche Ermöglicherin“ gewesen, also eine, „die für unmöglich Gehaltenes auf sehr ungewöhnliche Weise möglich machen konnte.“ Ja, das klänge an, sagt Irene Moessinger. Sie überlegt. Dann: „Ich glaube, was ich wirklich gut kann, ist Integrieren und Dranbleiben. Auch das gehört zum Erfolg: Dranbleiben, auch wenn’s schwierig wird.“ Da gäbe es doch sicher ein englisches Wort… Es fällt Irene Moessinger ein: Pit pony, das Pferd, das in der Grube den Wagen zieht. Moessinger guckt zufrieden. Pferde sind eben ihre Leidenschaft. Pferde – und Menschen.
Irene Moessinger: Berlin liegt am Meer, 464 Seiten, erschienen bei Galiani, 26 Euro.
In Berlin liest Irene Moessinger am 12.09. im Pfefferberger Theater und am 17.10. im Theater Expedition Metropolis.