Manchmal habe ich das Gefühl, zwei Leben in einem zu führen. Das klingt jetzt dramatisch, jedenfalls behauptete das neulich eine entfernte Bekannte. Ist aber eigentlich sogar sehr schön. Auch durchaus verwirrend, hin und wieder. Einmal, das ist noch gar nicht lange her, da stand ich mit einem Fuß in Rotwein und mit dem anderen in Scherben, um mich herum laute Musik und flackernde Lichter und lustige Leute. Kurz wollte ich ein Kehrblech besorgen, wie sich das eben gehört, aber mein Fuß tat schon ganz anderes, stellte sich quer vor alles Kaputte und schob das Schlamassel tollkühn aber im Stillen mit der Sohle vom Tanzflächenrand herunter. Der andere Fuß war wie angewurzelt, er blieb stur wo er war, voller Verachtung für seinen aufsässigen Bruder, bis der Beinahe-Spagat mir gerade noch rechtzeitig ein rettendes Signal zum Hirn sendete, das da in etwa lautete: Gnädiges Fräulein, Übermut tut selten gut. Das habe ich wirklich gedacht in diesem Moment, während ich zeitgleich versuchte, der drohenden Oberschenkelzerrung durch ein elegantes Zurückrutschen in meine Ursprungsposition zu entkommen. Pipi musste ich obendrein. Und so torkelte und wippte ich guter Dinge zur Toilette, betrachtete im Vorbeigehen flüchtig mein Spiegelbild und war kurz überrascht. Was ich sah, war eine Mutter. Und diese Mutter, die war ich. In einer mit bunten Steinen bestickten, rückenfreien Carmen-Bluse, wohl bemerkt. Hurra, dachte ich. Und: Oh weia, kurz vergessen, da war ja was.
Das passiert mir manchmal, sekunden- oder minutenkurz, wenn die Platte in Leben #2 springt. Oder wenn sie sich ziemlich berauschend anhört. Dass ich vergesse, dass es durchaus noch das Leben #1 gibt. Das erste und wichtigere, wenn man so will. Das, in dem ich Butterbrotdosen für Kinderladen-Ausflüge mit herzförmigen Birnenstücken voll packe, Standseilbahnen quer durchs Wohnzimmer verlege und Rennautos mit Regenbogen-Lackierung male, das, in dem ich immer pünktlich bin und meistens vernünftig, halbwegs gut organisiert und stets bemüht, glaubwürdig all die herrlichen Süßigkeiten zu verteufeln, die ich am Ende ja doch wieder aus der Hosentasche zaubere, das, in dem ich die wichtigen Dinge des Seins erkläre und vormache und manchmal auch versage, aber immer mit einem Lächeln im Rücken, vom tollsten Lio der Welt. Von meinem Kind, das jetzt schon vier Jahre groß ist.
Kann man doch eigentlich nicht vergessen, sowas Liebliches und Essenzielles, denken manche offenbar wirklich und wahrhaftig, so einen Umstand, der größer ist als jede Party! Jedes Verknalltsein! Jedes Vergnügen! Und sollte man vor allem nicht! Glaubt mir, mich wunderte es anfangs auch, ich kannte ja nur Vorurteile und Geschichten. So sehr, dass ich gelegentlich dem schlechten Gewissen gefrönt habe, von dem sich die moderne Frau, die mehr als Milchkuh ist, doch eigentlich längst emanzipiert haben müsste. Weil es schlichtweg keinen nennenswerten Grund für Rechtfertigungen gibt. Rechtfertigungen für Lebenslust. Für ein eigenes Leben. Für Auszeiten. Nicht, dass ein Kind vergleichbar mit einem Job wäre, nein, so ein Kind ist ja noch viel, viel mehr Arbeit. Eine Parallele gibt es trotzdem zwischen diesen beiden emotionalen Aggregatzuständen: Nur, wer es zulässt, gelegentlich hinfort zu fließen oder gar für einen Augenblick zu verschwinden, wird auf Dauer nicht gaga wie klebriges Gelee. Ist jedenfalls bei mir so. Und trotzdem sagen (fremde) Leute Sachen zu mir wie: „Du siehst ja gar nicht aus, als hättest du ein Kind! Man merkt ja gar nicht, dass du Mutter bist!“ Häh? Wie um alles in der Welt sollen Eltern denn aussehen? Als sei „Eltern“ gleichbedeutend mit „Das Leben ist vorbei“. Oder „Benimm dich!“. Stimmt ja gar nicht. Und eigentlich wissen wir’s längst besser. Trotzdem neigen Menschen, vor allem in Sozialen Netzwerken, dazu, besonders freigeistigen Müttern für das Feiern ihrer Körper und ihres Seins, ihrer vielen Leben und Facetten verbal in den Rücken zu springen. Furchtbar finde ich das.
Eigentlich nämlich nichts Neues, dieses Schwimmen in Parallelwelten. Und etwas Selbstverständliches. Das machen ja die meisten von uns, die einen mehr, andere weniger. Bei der Arbeit, beim Ausgehen, im Urlaub mit Freundinnen. In den kostbaren kinderfreien Minuten zwischendurch. Komisch, dass ich bei „kostbar“ gerade ins Wanken geraten bin. Was denken denn da die Leute? Genau das Richtige – Kann mir doch niemand erzählen, dass solche Momente nicht erquickend wirken. Und dennoch bin ich neulich schon wieder selbst mit einem kurzen Gedankenspiel in altbackender „Darf das sein?“- Manier aufgewacht. In der Wohnung, die noch gänzlich zu Leben #2 gehört, sehr bewusst, weil alle Beteiligten noch ein wenig Zeit zum Verschmelzen brauchen. Das fühlt sich unweigerlich seltsam an. Wie das Ergebnis einer Zeitreise vielleicht. Als gäbe es nichts auf der Welt als Luft und Liebe und schon gar keine Verpflichtungen. Immer nur für einen kurzen Augenblick oder für einen Tag lang. Das reicht aber, um gelegentlich schräg aus der Wäsche zu schauen. Zum Beispiel, wenn ich nach einem langen Lotter-Frühstück in die Ubahn steige, gefühlt vogelfrei, und schon an der nächsten Station in einer anderen Rolle stecke, samt Einkaufszettel im Anschlag und Ausflugsideen für den Nachmittag. Ich kann es dann selbst nicht fassen. Wie sehr beide Welten gerade zu mir gehören, wie gern ich sie habe. Jede auf ihre Weise. Keine will ich missen. Ist das auch noch ok? Was für eine dämliche Frage.
Schon allein das Sinnieren darüber, ob es nicht doch ein bisschen verwerflich ist, in gewissen Situationen einen erheblichen Aspekt der eigenen Existent freiwillig über Bord zu werfen, jedenfalls gedanklich, oder eben „erst morgen wieder Mama zu sein“, scheint mir als Überlegung für die Tonne – man ist nämlich ohnehin machtlos gegen das, was wir sowieso mit uns herum schleppen, in jeder Sekunde: Eine elefantenschwere Liebe, für die gar kein Hirn und erst recht kein physisches Dasein vonnöten ist. Kein Beweis. Die übermannt einen immer wieder, auch wenn man gerade mal ganz woanders ist, in Form von kurzen, wonnigen und sehr hellen Geistesblitzen, als würde das Unterbewusstsein das Bewusstsein kurz umarmen wollen. Da ist er also wieder: Der Spagat. Aber einer, der nicht weh tut. Ein Fuß da, einer dort, hin und her, immerzu. Und jetzt? Rein lehnen! Machen! Alles. Außer zweifeln.