Wenn mir jemand vor einem halben Jahr hätte verklickern wollen, dass wirklich frühes Aufstehen eine wirklich gute Idee sei, wäre ich wohl sehr schnell damit gewesen, an der psychischen Konstitution meines Gegenübers zu zweifeln, oder mehr noch: Unsere gesamte Freundschaft infrage zu stellen. Mit weit aufgerissenen Augen hätte ich dagesessen, ungläubig und fassungslos und auch ein bisschen verachtend, mit hektisch gen Stirn tippendem Vogelfinger, und auf jeden Fall bereit, diese von Anna Wintour und Jack Dorsey heiß geliebten „Miracle Mornings“ in dieselbe Quatsch-mit-Soße-Schublade zu stecken wie „Juice Cleanse“ und „Super Foods“, ganz einfach, weil ich vor lauter vermeintlich gesunder Modeerscheinungen sowie längst das Gefühl habe, ein Leben wie aus der McDonalds-Reklame zu führen sobald ich mal vergesse, den gewachsten Apfel zu waschen. Haben die denn noch nie etwas vom magischem Ausschlafen gehört? Scherzkekse. Und Lemminge! Wenn Gucci jetzt nicht nur Interior-Klimbim, sondern auch noch Mandalas zum Ausmalen auf den Markt würfe und zeitgleich ein paar Chef-Managerinnen dazu bewegen könnte, sich selbst beim hypnotischen Ausfüllen wellenförmiger Ornamente zu inszenieren, wäre sicher auch ratzfatz ein neuer Hit geboren. Weil genial simpel und wieder so schrecklich gut für die Mental Health.
Ihr seht das ganz richtig: Hochmütig wie eine Siamkatze belächelte ich schon allein aus Prinzip alles, was für Erleuchtete seit jeher zur Routine gehört. Was ich da noch nicht wusste: Wer zuletzt lacht, lacht im schlimmsten Fall tatsächlich am besten. Ich hätte es ahnen können, auch diesmal. Aber die Abwehr gegen besagte (nun schon seit geraumer Zeit anhaltende und penetrante) Glorifizierung des Frühen Vogeltums war groß. Bis die Not größer wurde und ich ganz klein mit Hut.
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Jetzt, einen Lebenswandel und dreißig Wassernudel-Ritte später, bin auch ich, was ich niemals werden wollte, erst recht nicht seit ich Mutter und sowieso ständig neidisch auf verkaterte Liegenbleiber bin, nämlich: Freiwillige Frühaufsteherin. Obwohl, gelogen. FrühERaufsteherin, das ist es. Ich bin den Medien, oder besser Headlines, quasi halb auf den Leim gegangen und zwar ganz ohne das berühmte Buch von Hal Elrod zum Thema überhaupt gelesen zu haben. Dort wird, das weiß ich inzwischen auch, die sogenannte „Life-S.A.V.E.R.S.„-Methode propagiert. Und die geht so:
Erstmal SILENCE (also Meditation, Mandalas malen oder Atemübungen), dann AFFIRMATION (Mensch Meyer, was sehe ich heute wieder scharf aus und klug bin ich auch, was hab ich den an diesem schönen Tag eigentlich vor, wie auch immer, ran an die Buletten), nun die VISUALISIERUNG (Ziele ausdenken, aufschreiben oder -malen), dicht gefolgt von den EXERCISES (Früh-Sport!) und READING, selbsterklärend, bis hin zum abschließenden Notieren der wichtigsten Gedanken und Ideen des Morgens, auch SCRIBBLING genannt. |
Komischer Weise klingt das in meinem Ohren gar nicht (mehr) so verkehrt, aber es ist wie es ist, ich bin zu alt, um mich von Grund auf zu ändern. Eine sechs-punktige To-Do-Liste vor halb Zehn erscheint mir noch immer so falsch wie viel Bier vor vier an einem Werktag, an dem die Sonne nicht scheint. Die gute Nachricht für alle, die ähnlich fühlen: Es geht (zunächst) auch ohne (so viel Zwang).
Dazu stelle man sich am Vorabend einfach einen Wecker, der ungefähr eine bis eineinhalb Stunden früher als gewohnt klingelt, fertig.
Gut, sich aufrappeln muss man trotzdem noch, aber das funktioniert zum Beispiel besser, indem man der Logik entsprechend auch einfach eine Stunde früher unter die Decke springt. Am Anfang fällt es scheiße schwer, da brauchen wir uns nichts vormachen, aber nach ein paar Anläufen setzt recht schnell eine ungeahnt wohlige Befriedung ein. Das Gefühl, ein bisschen früher dran zu sein als nötig, beruhigt ungemein. macht sogar heimlich erhaben! Da geht der Puls endlich runter! Die Vögel zwitschern! Und plötzlich ist da diese Ruhe! Mehr Zeit zum stolz auf sich selbst sein, zum Bummeln, zum Alleinsein, zum Blumenwasserwechseln, für die TAZ, für krasse Frühstückskreationen, meinetwegen auch für Lästiges, also die Dinge, für die im Alltag sonst keine Minute bleibt. Bevor die Kinder aufwachen, bevor die Arbeitskolleginnen mit ihren Kaffeetassen klirren, bevor überhaupt irgendwer nerven kann! Ich bin jetzt selbst die größte Nervensäge! Ich allein! Findet jedenfalls mein Freund, der sich einfach nicht erleuchten lassen und stattdessen lieber weiter pennen will. Aber ich darf das! Weil ja offenbar, laut Celebrity-Check, gar kein Ruf mehr zu ruinieren ist, mit so einer salonfähigen Marotte wie dem Früh(er)aufstehen.
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Ihr seht: Eingeknickt bin ich, voller Innbrunst. Und ich rate euch: Tut es auch! Werdet Frühaufsteherinnen! Aber beruhigt euch erstmal. Magische Wunder-Morgen inklusive Müßiggang sind nämlich trotz all des Selfcare-Wahns kein Hexenwerk. Ganz im Gegenteil sogar. Warum sollten wir uns ein Leben lang beeilen und zwar schon direkt nach dem Aufwachen? Entschleunigung, da ist sie wieder und nichts anderes macht Sinn – außer das Leben kommt dazwischen. Was hoffentlich trotz guter Vorsätze permanent passiert. Wilde Nächte müssen endlos bleiben dürfen und manch junger Tag schreit von ganz allein nur so nach nochmal umdrehen. Dann hilft natürlich nur Liegenbleiben. Auch nicht schlimm.
Super gelassene oder mords aktive Früheraufsteherin kann man, aufgepasst, ohne Probleme auch nur Montags sein. Oder immer wieder Mittwochs. Vielleicht auch an drei Tagen pro Woche. Oder mal so, mal so – je nach Belieben eben. Mit folgendem Zitat in Baumarkt-Deko-Manier wendet sich Elrod, der Guru der Morgenmenschen, schließlich sogar selbst noch an Normalos wie uns:
„Give Up Being Perfect for Being Authentic“.
Jawoll. Werde mir das Buch trotzdem nicht kaufen. Noch mehr Professionalisierung des Alltags schreit für mich nämlich nicht nach Mental Health. Sondern, um im passenden Vokabular zu bleiben, nach ganz schlimmer Mental Myserie plus Pippikacka Pressure gratis obendrauf. Muss nicht sein – im doppelten und wahrsten aller Sinne. Dann male ich doch lieber Mandalas. Zur Strafe, weil ich heute Morgen schon wieder länger geschlafen habe als man den Wecker snoozen kann.