Ich habe mir gestern ein neues Notizbuch angelegt um mein Hirn zu ordnen, mit verschiedenen Spalten und Themenbereichen und Farben und Kästen und Tabellen, mein erster Decluttering-Versuch, schrecklich. Vierzehn fast leere Seiten sind das in etwa, die mich seither erwartungsschwanger anglotzen und gierig auf die Rollmiene meines Kullis warten, in dessen Hals irgendjemand meine Initialen hat eingravieren lassen. Während ich das hier tippe, sitze ich in meiner Küche auf einem Ballkissen, das farblich zum Stuhl darunter passt, zu meinen Füßen liegt eine Yogamatte, die heute früh schon brav beackert wurde und links röchelt die neue Kaffeemaschine, die jetzt alles ganz automatisch macht. Man könnte fast meinen: Ich habe endlich mein Leben im Griff!
Das stimmt aber nur ein bisschen. Ich bin nämlich auch genervt. Von dem Fakt, dass ich mich zweifelsohne angesteckt habe mit diesem Drang, die Dinge des Daseins permanent verbessern zu wollen. Nicht nur hier und dort, sondern in fast allen Lebenslagen. Aus dem Phänomen der allseits betriebenen Selbstoptimierung scheint mittlerweile ein süßer Brei geworden zu sein, der sich Stück für Stück in jede noch so kleine Ritze des Alltags schiebt. Oder in Kleiderkisten! Gibt es hier denn überhaupt noch jemanden, der in letzter Zeit nicht versucht hat, Jeanshosen wie aufrecht stehende Dominosteine aneinander zu reihen, mit Marie Kondos belastend zartem Stimmchen im Ohr?
Oder gestern, da stand ich im Fitnessstudio umringt von in Schale geschmissenen After-Work-Sportlerinnen, manche trugen sogar Herzfrequenz-Uhren und Hosen mit geflochtenen Details zwischen Poansatz und Unterrücken, die allesamt Bluetooth-Kopfhörer in den Ohren stecken hatten und hielt dabei selbst eine Tricolor-Trinkflasche in dänischem Design von HAY in den Händen. Hä?
Wenn meine Mutter mich nach einem Bild vom Mann und mir fragt, weil wir ja schon wieder so lange nicht zu Besuch waren, dann drücke ich zuweilen nicht einfach so auf den Auslöser, sondern suche erstmal nach einem netten Hintergrund, um dann ein nettes Gesicht aufzulegen und nett zu posieren. Ich weiß, dass das viele machen: Fotos von Freunden zum Beispiel, die sich anordnen als ginge es dabei um die Präzision einer Hochzeitskomposition in Goldener-Schnitt-Manier.
Ist das nicht bescheuert?
Dass wir mittlerweile längst einen Automatismus entwickelt haben, der ganz zum Konzept genau jener Industrie passt, die laut eines älteren Zeitungsartikels pingelig darauf achtet, nur solche Lampen in Restaurants aufzuhängen, die das Servierte ins rechte Licht rücken, ganz zu schweigen vom Interieur und Aufbau sämtlicher (öffentlicher) Räume, die auch gleich wieder in die Tonne gekloppt werden können, sofern sie nicht instagrammable sind. Meine Bekannte J. knickte neulich außerdem ein, als sie mir offenbarte, jetzt endgültig darauf zu scheißen, ob ihr Bücherregal nun fotogen daher komme oder eben nicht, genau wie Bad, Schlafzimmer und Küche. Geht ja gar nicht, wenn man richtig wild leben und nicht nur zeigen will, begriff sie und ich staunte, weil ich wusste, von welchem Irrsinn sie da sprach und trotzdem nicht glauben konnte, dass Problemchen wie diese heute zu ganz normalen Denkprozessen dazu gehören zu scheinen.
Gut, ich übertreibe hier gerade meinetwegen ein bisschen, aber an manchen Tagen sehe ich wohin ich auch blicke Professionalität in unterschiedlichster Ausprägung: Augenbrauen on fleek, Skizzen, die mit dem Lineal unterstrichen werden, Salate mit Superfood-Streuseln, blank polierte Räder, deren Sättel stilistisch und farblich zum formvollendeten Kindersitz passen, Spotify-Playlists, auf denen sich nicht ein einziger Trash-Song für die Seele tummelt, es kann schließlich vorkommen, dass der Private Session Modus mal hakt, Büros, die weißer sind als die gebleachten Zähne regelmäßiger Grill Royal-Gänger, Frisuren wie aus einem Geometrie-Lehrbuch, unwirklich faltenfreie Blusen und Hälse, Turnschuhe wie frisch aus dem Ei geschlüpft, Kalender, die keinen Raum zum Bummeln lassen – und Leute: In meinem Supermarkt ums Eck läuft jetzt nur noch Jazz, statt die Hitliste von 2005.
Bitte sagt, dass ihr versteht, was ich meine, auch wenn Ella Fitzgerald natürlich angenehmer klingt als Daylight in Your Eyes von den No Angels. Wenn doch alles nur nur noch strahlt und klappt und geil aussieht, wo bleibt denn da das charmante Chaos? Die Anziehungskraft der liebenswürdigen Hässlichkeit? Das schöne Scheitern und Schludern?
Ich sage nicht, dass es nicht erstrebenswert wäre, seinen Scheiß im Griff zu haben. Sich zu pflegen und meinetwegen auch scharf anzusehen. Oder Ordnung zu halten. Vor allem Letzteres macht ja durchaus Sinn. Aber immer? Unser Leben ist doch kein Job. Und wir machen das doch alle zum ersten Mal. Macht (also) mal halblang, meint auch der Bestseller-Autor Matt Haig in seinem neuen Buch über unseren nervösen Planeten. Und beruhigt euch. Es ist nämlich gar nicht schlimm, sondern mitunter sogar sehr gesund, ein bisschen durch die Tage zu schlawinern, auch ganz ohne professionellen Masterplan.