Mitten im April reden alle von Sommer, obwohl doch offensichtlich Frühling in der Luft liegt, und er ist real: Verfrühte Saisoneröffnung im Schwimmbad, Nachtschwärmer in kurzen Hosen vor den Bars in der Stadt oder Lichtschutzfaktor 50 im Gesicht. Der bislang heißeste Tag des Jahres sorgt für Aufsehen und volle S-Bahnen, denn alle wollen sie ans Wasser, in den Park oder auf die Piste gehen. Ist der Beigeschmack namens Klimawandel hier angebracht oder plagt uns seit neuestem nur ein permanent schlechtes Gewissen?
Absurd scheint es, jemanden abzustrafen, der sich über mehr Sonnenstunden freut. Denn wer kann sich, mit rar gesäten Urlaubstagen und ohne flexible Arbeitszeiten, auf genug Frischluft und Waldspaziergänge im Sommer verlassen? Die Welt, in der wir leben, hat uns zu einer Vorwurfsgesellschaft mutieren lassen. Denn statt bei sich selbst genau aufzupassen und nach Lösungen zu suchen, sind Menschen Meister darin, mit ausgestrecktem Zeigefinger auf diejenigen zu zeigen, die es falscher machen als man selbst. Die Klimasünder*innen, die Plastiknutzer*innen, die Billigflieger*innen, die Sonnengötter und -göttinnen. Pfui. Verurteilen fällt so leicht, weil es einem vor Augen führt, dass man zumindest schon einmal den Missstand erkannt hat, auch wenn man auf dem Sofa noch entspannt Däumchen dreht und den Strom von Vattenfall bezieht.
Und zu allem Übel sind alle gemeinschaftlich tagtäglich Zeugen ihres eigenen Versagens. Denn dort, wo es vier Wochen lang nicht richtig regnet, glaubt inzwischen keiner mehr an Bauernregeln wie den Siebenschläfer oder einen unglücklichen Zufall. Am Tag Sonne tanken, die man am Abend beim Gespräch unter Freund*innen besorgt und missgünstig verteufelt. Ist das jetzt unsere Realität geworden? Alles nur genießen, weil man sich am Ende selbstzufrieden UV-Strahlen auf den aufgeklärten Kopf scheinen lässt? Dort, wo „das richtige Meinen“ durch die richtige Tat ersetzt wird, fällt vor allem Position beziehen und Konsequenzen schließen schwer. Und am Ende gibt es ja auch noch die, die alles noch viel schlimmer machen als man selbst.
Die, die ohnehin mehr Auto fahren oder von Köln nach Berlin mit der Boing unterwegs sind oder noch Fleisch essen oder keinen Menstruationscup benutzen und Fast Fashion konsumieren. Aufatmen. Und ignorieren, dass sich die ganze Wokeness, das Wissen und die Zeit, all die Möglichkeiten und die Auswahl zwischen Second Hand und Billig-Kaufhaus, Bio-Glucke und Chicken-Nuggets-Privilegien in einem Kosmos befinden, der sich oftmals aus Akademiker*Innen, Großstädter*Innen und Idealist*Innen zusammensetzt. Dass häufiges Fliegen schlecht für die Umwelt ist, liegt für viele auf der Hand. Was aber, wenn die Billig-Airline und ihr ständiger Einsatz für manche den Urlaub erst möglich macht, Second Hand keine Option ist, weil Alleinerziehenden mit zwei Kindern die Zeit fürs Stöbern auf dem Flohmarkt oder die Recherche nach Rezepten fehlt? Wenn der Preis die Teilhabe bestimmt, sitzt man mit im Boot oder ist eben die Person, die im Supermarkt einen verachtenden Blick erntet, weil neben dem Leberkäse die Eier aus Bodenhaltung liegen. Weil am Ende nämlich die Zukunft der Konsument*Innen in den Händen des Marktes liegt und die meisten das kaufen, was sie sich leisten können und nicht etwa das, was sie als politisch korrekt erachten.
Das, was beim Verlassen der eigenen vier Wände für alle spürbar ist − mehr noch als das Plastik im Trinkwasser oder in den Weltmeeren − ist zum einen Anlass für quietschbunte Sommerfantasien, zum anderen beinharter Realitycheck. Dass es warm wird, können wir alle spüren, verstehen und vielleicht als direkte Auswirkung eigener Verhaltensweisen identifizieren. Ein wichtiger Reminder für das, was man tagtäglich selbst ausrichten kann, um etwas zu verändern, ganz ohne mit dem Finger auf die Nachbarsfrau zu zeigen. Wenn das Fehlverhalten aller am Ende dafür sorgt, im April schon die lauesten aller Sommerabende zu verbringen, ist das aber auch Anlass, um Kraft und Energie zu tanken. Ob abends in den Großstadtstraßen oder beim Picknick im Wald. Denn auch wenn gegebene Veränderungen zu Recht beängstigen und mürbe machen, im besten Fall Handlungen nach sich ziehen, kommen nun wirklich die wenigsten drum herum, sich nicht doch über verfrühte Sommergefühle zu freuen. Vielleicht ganz ohne schlechtes Gewissen beim Sonnenbad.