Ich bin jetzt ungefähr ganz grob geschätzt ein volles Jahr mit meinem Freund zusammen und während ich das schreibe, wird mir auch schon ganz anders. Keine Ahnung, ob man mit nicht mehr 20 plötzlich eher davon spricht, „in einer Beziehung“ zu sein, weil „mein Freund“ so sehr nach Besitz und auch irgendwie falsch klingt, ich meine „Freunde“, davon hat Mensch ja hoffentlich viele. Aber nochmal kurz zurück zum Jubiläum, also zum exakten Datum des ersten Tages in offizieller Zweisamkeit – sowas gibt es ja im Grunde gar nicht, in dieser Erwachsenenwelt, man kann bloß schätzen, pi mal Daumen. Es schiebt ja keiner mehr Zettel zum Ankreuzen rüber und wenn doch, dann ist das entweder schwer beschämend oder sau entzückend und immer die sowieso mutige Ausnahme.
Ich weiß jedenfalls noch, wie kacke ich das Fischen im Ungewissen fand, diese Abwesenheit von Definitionen, über Wochen und Wochen und noch mehr Wochen. Dabei gilt es ja längst nicht mehr als zeitgemäß, ständig darüber informiert sein zu wollen, in welcher Phase der Balz man sich gerade befindet. Freiheit ist nunmal das Gegenteil von Druck, für viele. Und was groß werden will, braucht Zeit zum Wachsen. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht also tatsächlich sehr unmodern. Weil ich inzwischen doch der Meinung bin, dass Nähe nunmal Nähe schafft und viel reden viel hilft. Vielleicht hätte ich das besser mal gesagt irgendwann und auch gemacht – zumindest wäre es mir dann erspart geblieben, alle paar Tage über das Gehen nachzudenken, mal aus Sorge vor dem Schwinden von Unabhängigkeit und all der Zeit für mich allein, und mal, weil ich das Bleiben zuweilen als überaus anstrengend empfand, sogar körperlich, bis in die Fußspitzen schoss mir der Haselnschnussschnaps, den ich gefühlt literweise trank, um das Verknalltsein durchzustehen – wegen der permanenten Aufregung und dem Herzrasen und dem ganzen Deuten von Gesten und Sätzen, ganz so, als hätte ich gerade erst einen Zettel mit der Antwort „vielleicht“ ins Federmäppchen gesteckt bekommen.
Habe ich aber nicht. Beides nicht. Weder gab es ein vielleicht, noch habe ich während der ersten Monate je überhaupt gefragt, ob wir nun was Festes sind. Weil ich einerseits ja sehr locker und unbeeindruckt und schwer zu verletzten wirken und auch wirklich sein wollte. Und andererseits den sicheren Zustand der völligen Ahnungslosigkeit jeder potenziellen Enttäuschung vorzog. Dilemma statt Drama. Immerhin.
Schön, dieser gehassliebte Schutzmechanismus, der dem Älterwerden am Arsch klebt wie der Tod. Denn das, was Ü30-Beziehungen wohl am meisten von allen vorangegangenen unterscheidet, ist doch der gewaltige, mit Scheiße garnierte Erfahrungsschatz, auf den, dem Leben sei dank, plötzlich beide Beteiligten einer Verliebtschaft immer wieder zurückgreifen – ob sie das nun gut finden oder nicht. Man interpretiert, hinterfragt und verzweifelt vielleicht sogar an der Erkenntnis, dass der andere eigentlich sehr sauber tickt und macht sich trotzdem weiter Sorgen. Weil die Vergangenheit so schrecklich gern mit ihren Tentakeln ins Jetzt rüber patscht – um ein bisschen Unruhe zu stiften. Mit freundlichen Grüßen vom Trauma. Widerstand zwecklos. Verzeihen ist halt schwer und Vergessen irgendwann unmöglich.
Es ist beinahe so, als markiere das Kennenlernen eines anderen erwachsenen Menschen den Beginn des langsamen Sterbens der Leichtfüßigkeit. Zumindest am Anfang. Das behaupte ich jetzt einfach mal, weil ich es kaum anders kenne, nicht von mir und nicht von meinen Freundinnen. Ich sage nicht, dass der Anfang nicht schön ist. Das ist er sogar sehr, hoch Hundert, sonst würde ihn ja niemand überstehen, viel zu anstrengend. Aber er ist auch: verwirrend und neu und angsteinflößend. Wegen der persönlichen Päckchen, die alle mit sich herum tragen und die dann irgendwie zusammen getragen oder ausgepackt werden müssen, gemeinsam. Wegen all der Vorstellungen und Wünsche und Ziele, die irgendwann in jedem von uns gekeimt sind und sich nur schwer entwurzeln lassen. Weshalb sie lieber zusammenpassen sollten, jedenfalls halbwegs. Aber auch wegen der Angst, es doch noch zu vermasseln. Oder schon wieder.
Mit 20 habe ich zum Beispiel so gut wie nie an ein Ende gedacht. Nicht an Schlimmes, nicht an Blödes, nicht an Verletzungen, die je tiefer gegangen wären als eine richtig blöde Kuh. Vielleicht, weil ich im Grunde auch überhaupt nicht an ein „für immer“ geglaubt habe. Mit 31 ist es plötzlich anders herum: Ich glaube an ein „für immer“. Und denke trotzdem hin und wieder an ein Ende. Weil es so schade wäre. Noch schaderer als je zuvor eben.
Das auszusprechen fällt mir trotzdem schwer, auch nach zwölf Monaten noch. Obwohl es nie besser war. Was ja eigentlich großartig ist. Aber auch krass. Man könnte fast meinen, ich hätte sowas noch nie gemacht. Und vielleicht stimmt das auch. Nicht so jedenfalls. Statt alles aus- und anzusprechen, gebe ich den Dingen plötzlich Zeit, weil davon im besten Fall sowieso noch so viel übrig ist. Und hinterfrage im Zweifel auch mal mich statt nur mein Gegenüber, wegen der Päckchen, von denen ich selbst so viele gesammelt habe. Ich dachte zum Beispiel immer, alles an- und auszusprechen sei der allgemein gültige Schlüssel zu mehr Tiefgang und dem großen Glück. Heute weiß ich, dass das nicht immer stimmen muss. Weil ich manchmal spinne. Und wegen allem in der Vergangenheit Erlebten hin und wieder Dinge erdenke, die wenig mit der Realität, aber umso mehr mit meinem eigenem Hirn zu tun haben. Die Liebe bleibt nämlich, daran ist zunächst nicht zu rütteln, die letzte Bastion meiner Unsicherheit, die Brutstätte meiner natürlichen Panik sozusagen. Weil sie uns so nackig macht, so angreifbar und trotzdem so unendlich vergnügt.
Vor einem Jahr habe ich zum ersten Mal mit dem Menschen, den ich heute liebe, in der Sonne gesessen, beschwipst, vor lauter Aufregung. Viel hat sich seither nicht geändert. Nur klüger bin ich vielleicht geworden: Ich weiß inzwischen ganz sicher, dass ich längst nicht mehr lernen muss, wie man eine gesunde Beziehung führt. Aber jede Menge verlernen, das muss ich dafür umso mehr.