Europa hat gewählt und die deutschen Parteien reagieren mit Schnappatmung: Die Grünen vor lauter Freude über das noch-besser-als-erwartete Ergebnis, der Rest vor lauter Schock angesichts mittelmäßiger bis schlechter Ergebnisse. Im Fernsehen wechseln sich die besorgten Mienen der Parteiprominenz ab (Ausnahme, klar: die Grünen), die Problemanalyse hat begonnen. Und diese Analyse ist parteiübergreifend erstaunlich einheitlich: Man hat die jungen Leute nicht erreicht. Denn das junge Deutschland wählt grün: Ganze 33% der Wähler*innen unter 30 gaben den Grünen ihre Stimme. Danach kommt lange nichts, dann die Union mit 13%, die SPD mit 10%, Die Partei und FDP mit 8% und Die Linke mit 7%.
Und so überlegen CDU, SPD & Co nun, wie man sie denn erreicht, diese junge Leute. Viel wurde in den diversen Wahlsendungen und Medienstatements über die „Ansprache“ fabuliert. Denn die jungen Leute, weiß ja jede*r, verbringen viel Zeit online, und sie dort mit dem Wahlprogramm „abzuholen“ ist wichtig. Es klingt, als bestünde die Herausforderung vor allem darin, den richtigen Hashtag oder Instagram-Filter für die eigenen politischen Botschaften zu finden. Dabei besteht die eigentliche Herausforderung darin, dass die meisten der großen Parteien junge Menschen als Wähler*innen immer noch nicht ernst nehmen.
Was wollen diese jungen Leute?
Da wäre zum Beispiel CDU, die ihr mittelprächtiges Abschneiden in einer Schnell-Analyse der Jungen Union (JU) ankreidete. Sprich: Die parteieigene Jugendorganisation hat’s vermasselt, angeblich, weil es dort einen Rechtsruck gegeben hat. JU-Chef Tilman Kuban ließ das nicht auf sich sitzen: „Das eigene Haus hat in der letzten Woche völlig versagt, und jetzt sollen andere schuld sein?“ Und: „Wer auf YouTuber mit einer elfseitigen Hausarbeit antwortet, sollte lieber vor der eigenen Haustür kehren, als seinen Nachwuchs zu beschimpfen.“ Der besagte YouTuber ist natürlich Rezo, der mit seiner fast einstündigen CDU-Kritik in Videoform eine Art innerparteiliche Krise beim Objekt seiner Kritik ausgelöst zu haben scheint.
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CDU-Chefin AKK jedenfalls reagierte unsouverän, indem sie Rezo und anderen YouTuber*innen, die diesen in einem Video-Statement bestärkten, unterstellte, „Meinungsmache“ zu betreiben. Öffentlich sinnierte sie darüber, welche Regeln eigentlich für den digitalen Bereich (sprich: meinungsstarke junge Menschen auf YouTube und anderswo) bei diesem Thema gelten würden. Das klang stark nach Einschränkung der Meinungsfreiheit, auch wenn AKK selbst es im Nachhinein natürlich nicht so gemeint haben will (genauso, wie sie niemals vorhatte, Intersexuelle mit blöden Toiletten-Sprüchen zu beleidigen, aber das ist eine andere Geschichte).
Auch in der SPD ist die Ratlosigkeit groß: Was wollen diese jungen Leute? Dabei liefert die SPD selbst doch ein hervorragendes Beispiel dafür, was junge Leute garantiert nicht wollen: Mit massiver Kritik überschüttet werden, sobald sie es wagen, den Mund zu öffnen und (manchmal provokante) Meinungen zu vertreten. So geschehen mit Jusos-Chef Kevin Kühnert, als dieser in einem Interview ein bisschen vom Sozialismus träumte und unter anderem die Kollektivierung von Firmen wie BMW postulierte. Statt Vorschläge à la Kühnert als Denkanstöße zu begreifen und zumindest so zu tun, als sei man an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem eigenen Nachwuchs interessiert, gab es von prominenten Sozialdemokrat*innen wie Johannes Kahrs (nie um eine Spitze verlegen) irritierte bis schlechtgelaunte Reaktionen. Politisch engagierte junge Menschen – gerne! Aber die sollen dann doch bitte nicht auffallen oder gar Forderungen stellen.
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Politik ist Profi-Sache
So wie diese anstrengenden Fridays for Future-Demonstrant*innen. Die sollten lieber brav in die Schule gehen, statt sich lautstark über den Klimawandel zu beschweren. Und vor allem sollten sie dieses Klimading den Erwachsenen überlassen. Besser noch: erwachsenen Profis. FDP-Chef Christian Lindner verkündete auf Twitter, er fände „politisches Engagement von Schülerinnen und Schülern toll“, erklärte den Klimawandel dann aber sogleich onkelhaft zur „Sache für Profis“. Die Fridays for Future-Aktivist*innen zumindest scheinen der FDP in diesem Bereich keine besondere Kompetenz zuzutrauen – und auch den anderen großen Parteien nicht. Die Grünen liegen in der jungen Wähler*innengunst vor allem deshalb so weit vorne, weil ihnen beim Thema Klimawandel und -schutz am meisten zugetraut wird. Dieses Thema ist, das dürfte so langsam deutlich geworden sein, eines, das junge Menschen beschäftigt, für das sie bereit sind, auf die Straße zu gehen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil gab sich im Fernsehen zerknirscht: Beim Thema Klimaschutz sei die SPD „nicht auf dem Platz gewesen“.
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Tatsächlich sind Parteien wie SPD und CDU auch bei anderen großen Themen „nicht auf dem Platz“, um im Klingbeil-Sprech zu verbleiben. Was ist zum Beispiel mit der Rente? Es ist jungen Menschen schwer zu verkaufen, warum sie Parteien wählen sollen, die der jetzigen Rentner*innengeneration gefühlt eine Rentenerhöhung nach der anderen bescheren, sich aber wenig Gedanken darüber machen, was das finanziell für heutige Berufstätige und künftige Generationen bedeutet. Nachhaltige Lösungen? Pustekuchen.
Von wegen okay
Stattdessen macht man lieber alles so wie bisher – beim Klima, bei der Rente, bei der Digitalisierung – und erwartet von jungen Menschen, dass die das schon irgendwie okay finden. The kids are alright! Aber, Überraschung: Junge Leute finden das nicht okay. Schon lange nicht mehr. Sie gründen proeuropäische, grenzübergreifende Parteien. Sie zeigen, was die EU alles für ihre Bürger*innen tut. Sie rufen dazu auf, wählen zu gehen. Sie wollen keine vermeintlich coolen Ansprachen, keine originellen Hashtags oder weichzeichnende Instagram-Filter. Sie wollen mit ihren Anliegen, ihren Sorgen ernst genommen werden. Sie wollen, dass politisch etwas passiert, dass sich etwas ändert. Und das ist kein Grund für Schnappatmung – sondern einer, bestimmte Themen endlich mal anzupacken.