Sonntag, 20.15 Uhr in Deutschland: Im Abendprogramm läuft auf einem der öffentlich-rechtlichen Sender, wie es nun seit knapp fünf Jahrzehnten der Fall ist, die Krimireihe „Tatort“. Um genau zu sein ist es die Folge 1083, „Das verschwundene Kind“. 9,77 Millionen Menschen in Deutschland sehen an diesem Tagesende zum ersten Mal eine Schwarze „Tatort“-Kommissarin. Besonders ist die Entscheidung, die Rolle der Anaïs Schmitz mit der Schauspielerin Florence Kasumba zu besetzen, deshalb, weil Schwarze Menschen nicht erst seit jüngster Zeit Teil der deutschen Bevölkerung und Teil deutscher Geschichte sind. Kurz: Das Problem heißt Rassismus.
Obwohl die von Deutschland während der Kolonialzeit besetzten Gebiete zeitweise rund eine Million Quadratkilometer und zwölf Millionen Menschen umfassten (es war das territorial drittgrößte Kolonialreich), ist dieser Teil deutscher Geschichte bei vielen heute kaum präsent. Gleichermaßen wenig präsent sind den meisten die Auswirkungen dieser Zeit, die sich bis in die Gegenwart in rassistischen Denk- und Handlungsmustern manifestieren. Regelhaft wird das Thema Rassismus hierzulande auf den Nationalsozialismus verkürzt oder auf einen Raum außerhalb der nationalen Grenzen, wie die USA, verwiesen. Dabei ist rassistische Polizeigewalt auch hier ein Teil der Lebensrealität Schwarzer Menschen – der Fall Oury Jalloh machte das erschreckend eindrucksvoll deutlich. Dazu gehört auch struktureller Rassismus, also Rassismus, der von gesellschaftlichen Institutionen und Gesetzen ausgeht, wie etwa Benachteiligung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder eine vergleichsweise schlechtere Benotung bei gleicher Leistung.
In Deutschland gibt es zahlreiche Initiativen, die sich insbesondere mit Rassismus gegen Schwarze Menschen beschäftigen, wie etwa die bundesweit agierende ISD und der Berliner Verein EOTO, die sich rassistischer Diskriminierung annehmen. Diese Arbeit bleibt wichtig, denn in vielen Bereichen werden Schwarze Menschen ausgegrenzt und auf Stereotype festgeschrieben: „Ich habe angefangen mit Refugees, Dienstmädchen, Putzfrauen, Sklaven oder Ammen“, fasst die Schauspielerin Thelma Buabeng die Rollen zusammen, für die sie zu Beginn ihrer Karriere eingesetzt wurde.
Es sind Rollen, für die Schwarze Menschen regelmäßig gecastet werden, auf die Schwarze Menschen auch im alltäglichen Leben oftmals reduziert werden. „Das ist ’ne Form von Rassismus in dem Sinne, dass es ’ne fehlende Repräsentation gibt“, meint Content Creator und Moderator Tarik Tesfu. „Das Problem ist“, ergänzt er, „dass die Medienbranche das selbst gar nicht schnallt, sondern sich als progressiv wahrnimmt.“
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Die Darstellungen von Menschen, die Rassismuserfahrungen machen, die uns tagtäglich begleiten und unaufhörlich reproduziert werden, sind in der Regel negativ – unabhängig davon, mit welchem Thema wir uns befassen: Der Künstleragent und Mitgründer der Triangle Agency, einer Agentur für Techno-DJs und Live-Acts, , schildert: „Speziell junge Schwarze Künstler haben ein schweres Standing und sind unterrepräsentiert, in einer Musik, die buchstäblich von Schwarzen erfunden wurde.“ Adrian Wilkins, der als Concept Artist und Illustrator beispielsweise Figuren für Computerspiele entwirft, bemerkt im Rahmen seiner Arbeit immer wieder wie schablonenhaft die Darstellungen Schwarzer Menschen in Computerspielen sind: „Die Stereotype sind gar nicht groß anders als in der Filmindustrie auch. Hauptsächlich werden Schwarze oft reduziert auf Humor, sportliche Leistung oder Gangster-Stereotypes.“ Das Problem ist, viele halten diese Vorstellungen für wahr und fühlen sich sie in ihren rassistischen Denk- und Handlungsmustern bestärkt.
Der Wunsch nach Veränderung, dem Abbau rassistischer Strukturen in allen Bereichen des Lebens, verlangt Schwarzen Menschen Extra-Arbeit ab. „Du wirst das Thema ja nicht los. Sich mit dem Thema Rassismus zu beschäftigen, hört nicht auf, sobald man nach Hause geht, sondern das durchdringt ja alle Bereiche. Egal, ob man sich wie ich explizit damit beschäftigt und das zu seinem Kernthema macht oder ob man einfach Schwarz ist und hier arbeitet – egal wo“, erzählt Tarik Tesfu. Tatsächlich besteht diese unbezahlte Extra-Arbeit, die einen ständigen zusätzlichen Arbeitsauftrag bedeutet, vor allem darin, sich entgegen all der Widrigkeiten zu behaupten.
Das gilt für private Beziehungen, in denen Rassismus erlebt wird, wie in der Schule, der Uni und der Arbeitswelt gleichermaßen. Einerseits beinhaltet diese Arbeit, das Thema trotz der Abwehr weißer Menschen immer wieder anzusprechen, dabei Geduld beim Erklären von strukturellem Rassismus aufzubringen und nicht zuletzt, in Zeiten des Internets, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Und zwar ungeachtet möglicher eigener Verletzungen – das ist ermüdend und kräftezehrend.
Andererseits ist der Anspruch von vielen an sich selbst, den rassistischen Status quo mit viel Kreativität selbst zu verändern: Michael Müller arbeitet daran, dass die Leute in der elektronischen Musikszene sich zu fragen beginnen, warum es so wenig Schwarze DJs gibt: „Auf meinen eigenen [Grounded-Theory-]Partys habe ich da Einfluss – da versuche ich zum Beispiel, Schwarze DJs zu supporten.“ Adrian Wilkins möchte seinen Klient(inn)en „ins Bewusstsein rufen, dass sie in Mustern denken“, und bietet ihnen, wenn in der Beschreibung einer Figur, die er illustrieren soll, nicht weiß als Attribut steht, regelmäßig Schwarze Charaktere für Computerspiele an. Das Motto der Schauspielerin Thelma Buabeng wiederum ist: Selbst machen: „Ich hab‘ ehrlich gesagt keinen Bock, darauf zu warten, dass was passiert, und deswegen hab‘ ich einfach mein eigenes Comedy-Format ‚Tell Me Nothing From The Horse‘ kreiert!“
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Dieser Einsatz ist nicht umsonst: Der „Tatort“, in dem erstmals eine Schwarze Kommissarin zu sehen ist, beweist, dass all die Arbeit Schwarzer Menschen, sei es in Initiativen organisiert, im jeweiligen Arbeitsbereich oder im privaten, Einfluss hat und positive gesellschaftliche Veränderung bewirkt. Zugegeben, obwohl Florence Kasumba immerhin eine Kommissarin im „Tatort“ spielt, haften auch ihrer Rolle gängige Klischees an, etwa das Stereotyp der wütenden Schwarzen Frau. Dennoch, auch das ist Veränderung – nicht über Nacht, dafür langsam, stetig und nachhaltig.
Dieser Text von Josephine Apraku stammt aus unserer VOGUE COMMUNITY und erschien im Original bei der deutschen Vogue.
Josephine Apraku ist Afrikawissenschaftlerin, ehemaliges Mitglied von Black Lives Matter und aktiv in antirassistischen Institutionen tätig. In diesem Beitrag schreibt sie darüber, wie Rassismus alle Lebensbereiche von Schwarzen Menschen betrifft – und was passieren muss, um eine Veränderung zu bewirken.