90 Jahre sind, je nach Blickwinkel, eine eher kurze oder eine eher lange Zeit. Genauso wie damals erschienene Texte sich heute eher hochaktuell oder eher veraltet lesen. Ein Text, über den es gerne heißt, er habe „nichts von seiner Aktualität eingebüßt“, ist der Essay Ein eigenes Zimmer, erschienen am 24. Oktober 1929 und verfasst von der britischen Schriftstellerin Virginia Woolf. Er handelt von Frauen und Literatur, von der Schwierigkeit, eine schreibende Frau zu sein und davon, was Frauen brauchen, um sich künstlerisch entfalten zu können. 1929 sind Frauen, in England wie in Deutschland, dank des elf bzw. zehn Jahre zuvor eingeführten Frauenwalrechts offiziell Bürgerinnen – vor allem aber Mütter, Ehefrauen, Ergänzung des Mannes. Auch in der Literatur. Zu diesem Thema – Frauen und Literatur – hält Virginia Woolf im Herbst 1928 zwei Vorträge am Girton College und Newnham College, den ersten englischen Colleges, die im 19. Jahrhundert ausschließlich für Frauen gegründet worden waren. Aus den Vorträgen entsteht ein Jahr später der Text Ein eigenes Zimmer, welcher heute, 90 Jahre später, immer noch zu den bekanntesten und bedeutendsten feministischen Texten gehört. Was bedeutet es also heute, im Jahr 2019, Ein eigenes Zimmer zu lesen?
Der Traum vom selbstgestalteten Lebensentwurf
Woolf hat eine klare These zu dem doch recht schwammig angelegen Thema „Frauen und Literatur“. Sie schreibt: „Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können.“ Diese These und ihre Weg dahin führt Woolf in sechs Kapiteln aus und wählt dafür eine Erzählerin („nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer es Ihnen gefällt – es ist vollkommen unwichtig“), die alsbald ernüchtert „die Sicherheit und den Wohlstand des einen Geschlechts“ und „die Armut und die Unsicherheit des anderen“ konstatiert.
Sie fragt sich: „Welche Bedingungen sind für die Erschaffung von Kunstwerken unerlässlich“? Weil sie in den Büchern des British Museums keine Antworten findet („Wohin man auch blickte, dachten Männer über Frauen nach und dachten unterschiedlich“), wendet sie sich der Geschichte zu, forscht dort nach den Bedingungen weiblichen Lebens und Schaffens: „Hier stehe ich und frage, warum Frauen im elisabethanischen Zeitalter keine Gedichte schrieben, und weiß gar nicht, was ihnen beigebracht wurde; ob sie schreiben lernten, ob sie eine eigene Wohnstube hatten; wie viele Frauen Kinder bekamen, bevor sie einundzwanzig waren; was sie, kurzum, von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends taten.“ In einem Gedankenexperiment stellt sie sich das Leben der fiktionalen Judith Shakespeare vor, Schwester des berühmten William, und ebenso talentiert. Judith Shakespeare, so die Erzählerin, wäre aufgrund ihres Geschlechts nie berühmt geworden – sie hätte nie eine Schule besucht und stattdessen im Haushalt helfen müssen. Sie wäre früh verheiratet und Mutter geworden. Von einem eigenen Zimmer hätte sie nur träumen können.
Die Metapher vom „eigenen Zimmer“ taucht im Essay an verschiedenen Stellen auf und wird unterschiedlich ausgelegt: Sie steht für Privatsphäre, aber auch für materielle Unabhängigkeit, für einen Anteil an der Produktion von Kultur. Und, natürlich: für ein nach eigenen Maßstäben geführtes Leben, einen selbstgestalteten Lebensentwurf. Für geistige Freiheit. Und die, macht Woolf deutlich, hängt von materiellen Dingen ab. Doch weder verfügen Frauen über die gleichen – materiellen – Lebensbedingungen wie Männer, die eine kreative Tätigkeit ermöglichen, noch werden sie in einem ähnlichen Maße ernst genommen oder gefördert.
Rosarote „Frauenliteratur“
Das war 1929. Und 2019? Wer auf Google nach „Frauen“ und „Literatur“ sucht, der landet ganz schnell auf dem Wikipedia-Eintrag „Frauenliteratur“. Dieser Begriff, so lernt man, bezeichne „ein Genre sowohl belletristischer als auch essayistischer Literatur, die im weitesten Sinne als ‚Literatur von Frauen und/oder über Frauen und/oder für Frauen‘ beschrieben werden kann.“ Diese Frauenliteratur manifestiert sich im Buchladen gerne als Regalwand ganz in Pink, Türkis und Rosa sowie allen Pastelltönen, und vereint alles, was literarisch eher seicht daher kommt. Sie ist eine eigene literarische Kategorie – für Männer hingegen existiert so etwas nicht. Die italienische Schriftstellerin Elena Ferrante sagte einmal: „Männer nehmen von Frauen geschriebene Bücher als Bücher für Frauen wahr“. Was im Umkehrschluss dazu führt, dass von Frauen geschriebene Bücher als weniger relevant gelten als die von Männern geschriebenen. Das zeigt sich bereits im Literaturkanon, der an Schulen gelehrt wird: Zwischen all den Goethes, Schillers, Fontanes und Brechts ist nur ab und an mal Zeit für eine Droste-Hülshoff. Oder eine Virginia Woolf.
Es zeigt sich auch in den Feuilletons: Die Autorin Nina George kritisiert: „Autorinnen finden sich mehr in Genreformaten, die der Unterhaltung oder ‚Frauenliteratur‘ […] zugeordnet sind, außerdem im Taschenbuch, gern mit Blümchen vorne drauf. Alles Feuilletongift. Männer werden häufiger im Hardcover veröffentlicht, etwa bei Edelverlagen wie Suhrkamp, Hanser, Aufbau. Das lieben die Kulturredaktionen. Und Buchhändler, die nicht zum Lesen kommen, stellen sich ihre Tische wiederum nach Kritiken zusammen – so wirkt auch auf Kaufende die ‚wichtige‘ Literatur eher männlich.“ Und diese „wichtige“ männliche Literatur gewinnt, wenig überraschend, auch mehr Preise: In Deutschland erhalten Männer im Schnitt fünfmal häufiger die wichtigen Literaturpreise: Der Büchnerpreis wurde seit seiner Erstverleihung 1951 nur an zwölf Frauen verliehen. International haben Autorinnen selbst zu den besten Zeiten – also heute – maximal dreimal pro Jahrzehnt den Literaturnobelpreis, den wichtigsten Literaturpreis der Welt, gewonnen.
Der Preis der kreativen Freiheit
Frauen mussten und müssen sich ihren Platz im Literaturbetrieb also hart erarbeiten. Und angesichts der Ungleichbehandlung von Autoren und Autorinnen drängt sich natürlich eine Frage auf: Schreiben Frauen vielleicht anders als Männer? Virginia Woolf zeigt, dass sie zumindest unter Bedingungen schrieben, die sich sehr von denen der Männer unterschieden: Sie waren häufiger und länger Semi-Analphabetinnen, d.h. sie konnten lesen, aber nicht schreiben. Sie hatten keine jahrhundertealte weibliche literarische Tradition, auf die sie sich beziehen, nach der sie sich formen konnten. Sie konnten neben ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter das Schreiben oft nur nebenbei betreiben. Ihnen kam schlicht nicht die gleiche Anerkennung zu wie schreibenden Männern.
Die britische Autorin Deborah Levy beschreibt in Was das Leben kostet sehr genau, welche Opfer schreibende Frauen auch heute noch bringen müssen. Als Levy sich nach der Scheidung von ihrem Mann mit zwei Kindern in einer Wohnung wiederfindet, die viel kleiner ist als das vorherige Familienzuhause, fehlt ihr Raum zum Arbeiten – im wahrsten Sinne des Wortes. Erst, als eine Nachbarin ihr ihre Gartenhütte als Büro anbietet, kann Levy sich eigenen Raum schaffen, nehmen. Einen Raum, in dem sie schreiben, denken, frei sein kann. Ein Raum, der trotzdem nichts daran ändert, dass sie eine alleinstehende Frau in ihren 50ern ist, die zwei Kinder zu versorgen und den Lebensunterhalt zu verdienen hat.
Über die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir, die sich gegen Kinder und einen konventionellen Lebensentwurf entschied, schreibt Levy: „Hätte sie nicht schreiben und glücklich sein und lieben und ein Heim und ein Kind haben können? Sie selbst dachte: Nein. Ich hatte es ebenfalls als ziemliche Gratwanderung erlebt.“ Die amerikanische Autorin Brigid Schulte stellt sich in ihrem Essay A women’s greatest enemy? A lack of time to herself ähnliche Fragen wie Levy – und wie Woolf. Die Zeit von Frauen, so Schulte, sei schon immer unterbrochen und fragmentiert gewesen, ihr Tagesrhythmus durch nie enden wollende Aufgaben wie Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflegearbeit bestimmt worden. Deshalb sei Freizeit, Muße, Zeit für sich selbst, „nichts weniger als eine mutige Tat radikalen und subversiven Widerstands“.
In der Schublade
Virginia Woolf war 47 Jahre alt, als Ein eigenes Zimmer erschien. Sie hatte sich einen festen Platz in der britischen, der internationalen Literatur erschrieben. Sie verfügte über ein eigenes Zimmer, ein eigenes Einkommen. Sie war unabhängig. Am Ende wendete sie sich mit der Bitte an ihre Zuhörerinnen und Leserinnen „Bücher aller Art zu schreiben und vor keinem Sujet, ganz gleich wie unbedeutend oder gigantisch, zurückzuschrecken. Sei es auf geraden oder krummen Wegen, ich hoffe, dass Sie sich in den Besitz von genug Geld bringen werden, um zu reisen und müßigzugehen, um die Zukunft oder die Vergangenheit der Welt zu betrachten, um über Büchern zu träumen und an Straßenecken zu verweilen und die Angelschnur des Denkens tief in den Strom eintauchen zu lassen.“ Woolf gibt sich optimistisch und fest davon überzeugt, dass Frauen in 100 Jahren imstande sein werden, nicht als Frauen Bücher zu schreiben – sondern als Menschen, ausgestattet mit einem „androgynen“ Geist.
Wie schreiben Frauen also heute? Ein eigenes Zimmer, in dem sie sich ganz dem Schreiben widmen können, in dem die Gedanken frei sind, haben sich viele Autorinnen heute erkämpft. Aber dass sie als Menschen schreiben, und nicht als Frauen, wird ihnen immer noch zu oft nicht zugestanden. Das zeigen Diskussionen wie #dichterdran, die deutlich machen, wie anders über Autorinnen berichtet wird als über Autoren. Das zeigt die Kontroverse um Karen Köhlers Roman Miroloi, dem Jan Drees im Deutschlandfunk bescheinigte, dem „feministischen Zeitgeist“ zu entsprechen und deshalb wohlwollender besprochen worden zu sein als andere Bücher. Frauen schreiben „Bücher aller Art“, so wie Virginia Woolf es forderte, aber sie schreiben meist immer noch als Frauen, weil man sie gar nicht anders lässt. So bleibt festzustellen: Ein eigenes Zimmer haben Frauen sich in der Literatur noch nicht vollständig erobert. Denn sie stecken zu oft in Schubladen fest, aus denen man sie nicht herauslassen will. Ein eigenes Zimmer ist vor diesem Hintergrund – leider – ein hochaktuelles Buch. Ein Buch, das nicht nur in vielerlei Hinsicht gut gealtert, sondern brillant geschrieben und scharfsinnig ist. Das Mut macht, sich in die Geschichte einzuschreiben: „Denn große Dichterinnen sterben nicht; sie sind weiterhin anwesend; sie brauchen nur die Gelegenheit, leiblich unter uns zu wandeln.“