Mit dreizehn gingen eine Freundin und ich im Gonsenheimer Wald spazieren. Ganze vier Stunden verbrachten wir inmitten von Bäumen und kleinen Lichtungen und eigentlich wäre das ganz schön entspannt gewesen, hätten wir uns nicht auf ziemlich dämliche Weise verirrt. Noch dazu waren wir ganz ohne Handy unterwegs, weil es damals irgendwie noch kein ständiger Begleiter war, der wie selbstverständlich in der Jackentasche auf seinen Einsatz wartete. Ich glaube, nach diesem Tag war ich kein weiteres Mal so lange im Wald, obwohl der ja eigentlich eine riesengroße Entspannung mit sich bringen kann, wie ich einige Jahre später von einem meiner Dozenten erfuhr. „Waldbaden“ heißt das dann und hat zwar sehr wenig mit Baden, dafür aber verdammt viel mit Wald zu tun.
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Waldbaden nämlich bedeutet in etwa so viel, wie in die Atmosphäre des Waldes einzutauchen, alles um sich herum wahrzunehmen und aufzusaugen. In gewisser Weise übt man sich hierbei in Achtsamkeit, während man sich der Natur voll und ganz hingibt, was in Zeiten dieser schwindelnden Schnelllebigkeit tatsächlich nach einer angemessenen Auszeit für Kopf und Seele klingt. Überhaupt steht Entschleunigung hier im Vordergrund: Statt viele Kilometer hinzulegen, geht man im besten Fall nur wenige Meter in der Stunde, bewegt sich langsam, dafür aber ganz bewusst fort. Es gibt kein Ziel, das erreicht werden muss, bloß die weite Landschaft und einen selbst.
Was im ersten Moment banal klingt, ist jedoch nicht immer so einfach, immerhin muss man sich erst einmal darauf einlassen, die Farben der Blätter auf sich wirken zu lassen, das Moos nicht bloß anzufassen, sondern zu spüren und den Wind durch die Bäume rauschen zu hören. Spätestens dann aber soll diese Art der Erholung ihre volle Wirkung entfalten.
Seinen Ursprung hat das Waldbaden in der fernöstlichen Tradition Shinrin-yoku, was auf Japanisch etwa so viel wie Wald(luft)bad bedeutet. Bereits in den 80er Jahren wurde es vom japanischen Landwirtschaftsmuseum eingeführt und im Rahmen eines Forschungsprogramms, das die medizinische Wirkung nachweisen sollte, gefördert. Einige Jahre später eröffnete schließlich das erste Zentrum für Waldtherapie und auch an japanischen Universitäten gibt es eine Spezialisierung in Waldmedizin. Mittlerweile ist die japanische Tradition auch nach Deutschland übergeschwappt und wird in verschiedenen Gebieten in angeleiteter Form angeboten. Hier führen Leiter interessierte Gruppen durch den Wald, lesen naturbezogene Gedichte vor, geben Tipps und Anweisungen. Angeboten wird das Ganze etwa im Taunus, auf Usedom, im Schwarzwald oder im Thüringer Nationalpark, aber auch in kleineren Waldgebieten. Wer mag, kann sich natürlich auch auf eigene Pfade begeben, im besten Fall in weitläufigen Gebieten, um nicht ständig auf andere Spaziergänger zu treffen.
Mitte November beschloss ich schließlich, dass auch ich dieses viel gelobte Waldbaden einmal ausprobieren möchte, meiner Psyche zuliebe, denn die konnte eine kleine Auszeit in der Natur ganz sicher gebrauchen. Dick eingepackt schleppte ich meinen Freund also gen Waldgebiet am Wannsee, um die kommenden zwei Stunden zwischen Bäumen und unter blauem Winterhimmel zu verbringen. Mein Fazit: Ich möchte mehr davon. Mehr Natur, mehr Wald, mehr atmen und fühlen, mehr Entspannung. Auch, wenn es mir ehrlicherweise noch ziemlich schwerfiel, mein Handy wirklich ganz und gar in der Jackentasche zu lassen, mal stehenzubleiben und innezuhalten, weil all das natürlich Übungssache ist — vor allem, wenn man denn sonst ständig das Gefühl hat, die Ruhe zu verteufeln, weil es sich nach Nichtstun anfühlt und man ja eigentlich überall und ständig glaubt, in Bewegung sein zu müssen. Und trotzdem fühlte ich mich nach diesen zwei Stunden entspannter, weil das tiefe Einatmen hier so viel leichter klappte und die bunten Farben der Blätter mich in eine ungewohnte Wärme hüllten, die schon fast ein bisschen poetisch war. Mein nächster Termin zum Waldbaden steht übrigens auch schon: An Weihnachten nämlich soll es nach vielen Jahren endlich mal wieder in den Gonsenheimer Wald gehen.