Es gibt dieses Zitat, das der Malerin Frida Kahlo zugschrieben wird: „Be your own muse“ – Sei deine eigene Muse. In Kahlos Fall zeigte sich dies ganz deutlich in ihrer Arbeit, die zu einem großen Teil aus Selbstporträts besteht. Nichts anderes, niemand anderes, inspirierte die Mexikanerin so sehr wie sie selbst, wie ihr eigenes Leben. Weil da immer Fragen waren, die sie sich stellte und deren Antworten sie in ihrer Malerei suchte. Doch darüber hinaus ist die Aufforderung, zur eigenen Muse zu werden, radikal: Es geht darum, sich von jemand anderem zu entkoppeln, nicht jemand anderem zu Kreativität zu verhelfen – sondern sich selbst.
Das ist deshalb radikal, weil Musen fast immer ausschließlich weiblich sind. Und die Menschen, deren Musen sie sind, fast immer ausschließlich männlich. Wenn beispielsweise ein Adam Driver mehrfach für Filme von Regisseur Noah Baumbach (Frances Ha, Marriage Story) vor der Kamera steht, ist Driver keine „Muse“ – dieser Begriff ist Frauen wie Anna Karina oder Scarlett Johansson vorbehalten, die Männer wie Jean-Luc Godard oder Woody Allen inspirierten.
Passive Gefäße
In der griechischen Mythologie sind Musen Nymphen, Töchter des Gottes Zeus und der Quellgöttin Mnemosyne. Sie sind Schutzgöttinnen der Künste und jeweils zuständig für einen Bereich, wie zum Beispiel Lyrik (Euterpe) oder Komödie (Thalia).
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Schon diese Musen stehen im Zusammenhang mit einem Mann, nämlich Apoll, dem Gott der schönen Künste, mit dem sie auf dem Berg Helikon dem Zeus huldigen. So weit die mythologischen Ursprünge des Musentums. Seitdem galten und gelten Musen als Inspirationsquelle – wer sich inspiriert fühlt, wurde von „der Muse geküsst“. Dahinter steht die antike Vorstellung, dass Ideen von Gött*innen – oder Musen – stammen, und sich nicht selbst in einem Menschen entwickeln. So bittet Homer zu Beginn seiner Odysee die Muse um Inspiration: „Nenne mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung.“
Mit der Zeit wurde die Muse so zu einem Objekt des Begehrens für männliche Künstler und Kreative. Dalí hatte seine Gala, Rodin seine Camille, Picasso seine Dora, Goethe seine Charlotte, Warhol seine Edie, Truffaut seine Catherine. Die Arbeitsaufteilung ist dabei klar: Die Muse liefert Inspiration, der Künstler nimmt diese und transformiert sie. In ein Gemälde, eine Skulptur, einen Film, ein Buch. Die Muse ist weniger als eine Mitarbeiterin, steht doch das, was sie beiträgt, im Dienste ihrer Beziehung zum Künstler: Ihr Mitwirken, ihr Einfluss, wird abgetan als eine mysteriöse Kraft, als etwas völlig Natürliches. Inspirierend sein, das ist schließlich keine Arbeit. Musen erscheinen als immer interessantes und stimulierendes, manchmal kompliziertes und kapriziöses manic pixie dream girl, einzig und allein da, dem Maestro zu künstlerischer Erfüllung zu verhelfen. Sie sind passive Gefäße, bereit, mit männlicher Genialität gefüllt zu werden.
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Mehr als nur Inspiration
Dabei haben Musen, wie ihre mythologischen Ahninnen, meistens sehr wohl eigenes künstlerisches Talent. Die von Anna Karina in den godardschen Filmen dargestellten Frauen wären nicht annähernd so charakterstark und lebendig gewesen, wären sie nicht von Anna Karina gespielt worden – die hauptberuflich eben nicht Muse, sondern vor allem eine begabte Schauspielerin war.
Gala Dalí mag ihren späteren Gatten beim ersten Treffen seinen Worten zufolge „in Trance“ versetzt und zu diversen Kunstwerken inspiriert haben – vor allem aber war sie eine gewiefte Geschäftsfrau, die Dalí erfolgreich vermarktete. Dora Maar war, schon bevor sie Picasso traf, eine bekannte Fotografin und fester Teil der Pariser Surrealist*innen um André Breton. Nach der Trennung von Picasso – er hatte in Françoise Gilot eine neue, jüngere Muse gefunden – wandte Maar sich zunehmend der Malerei zu: Im Pariser Centre Pompidou wurden 2019 über 400 ihrer Werke in einer großen Retrospektive gezeigt. Eine eigenständige Künstlerin sehen in ihr viele Historiker und Kritiker dennoch nicht, Maar bleibt die ewige Muse. Auch Camille Claudels künstlerisches Schaffen wurde vom Ruhm ihres Partners, des Bildhauers Auguste Rodins, überschattet.
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Tatsache ist: Für viele Frauen mit künstlerischem Talent und Ambitionen war ein Dasein als Muse oft die einzige Möglichkeit, es in die Künstler-Kreise zu schaffen. Der Weg zur eigenen Karriere führte über einen Mann. Die fein säuberliche Einteilung in Muse und Künstler verschleiert, wie schwierig es in Wahrheit ist, festzustellen, wo der Beitrag des einen endet und der des anderen beginnt.
Problematisches Ungleichgewicht
Das Problem am Musentum ist nicht, dass ein Mensch einen anderen inspiriert – das ist ja eigentlich eine sehr schöne Sache. Das Problem ist das Ungleichgewicht in der öffentlichen Wahrnehmung: Am Ende ist es der Mann, der triumphiert, weil er es ist, der aus (weiblicher) Inspiration Kunst macht. So ist die Musen-Maestro-Beziehung nur auf den ersten Blick eine, in der die Frau die Macht hat, weil sie für den kreativen Prozess so unabdingbar und notwendig ist.
Frauen wie Dora Maar, Gala Dalì, Anna Karina oder Camille Claudel stumpf in die Kategorie „Musen“ einzuordnen, verschleiert erstens ihren oft durchaus gewichtigen und essentiellen Anteil an Kunst und Erfolg ihrer Partner. Zweitens gerät ihr eigenes – kreatives – Talent, das unabhängig von diesen Partnern existiert, in den Hintergrund. Das ist schade. Aber, damals wie heute, irgendwie auch nicht überraschend.