Lidewij Edelkoort gilt als berühmteste Trendforscherin der Welt. Die Niederländerin sagt voraus, wie wir in Zukunft arbeiten, einkaufen und kommunizieren werden. Wie bei einem Puzzle setzt sie in ihren weltweiten Büros, den „Studios Edelkoort“, Laufsteg-Bilder, Gespräche und alltägliche Beobachtungen zusammen, bis grobe Muster und Tendenzen sichtbar werden, für die wir noch keine Worte gefunden haben, die uns aber bald beschäftigen werden. Dabei ist sie immer auch eine Kritikerin des bisherigen Systems: So veröffentlichte sie im Jahr 2015 ein “Anti-Fashion Manifesto”, in dem sie die Modebranche – Jahre bevor es die Nachhaltigkeitsbewegung in die Massen schaffte – zu radikalem Umdenken aufrief, um auch weiterhin eine Berechtigung zu haben.
Jetzt hat Li Edelkoort in einem Interview mit dem amerikanischen Medium “Dezeen” über die Auswirkungen der Corona-Pandemie gesprochen. Und verraten, warum sie – im Alter von 69 Jahren, mit Atemwegs-Vorerkrankung – dem Virus trotzdem etwas Positives abgewinnen kann.
(Denk-)Systeme werden infrage gestellt
“Das Virus bringt uns dazu, unsere Geschwindigkeit herunterzufahren, keine Flüge mehr zu nehmen, von zu Hause zu arbeiten und uns im Kreise der Familie und engsten FreundInnen zu beschäftigen; es lehrt uns, genügsamer und achtsamer zu sein. Plötzlich erscheinen uns Fashion Shows bizarr und übertrieben; die Reise-Angebote, die auf unserem Laptop aufploppen, beinahe übergriffig und lächerlich; der Gedanke an zukünftige Projekte ist vage und nicht greifbar: Aber ist all das von Bedeutung? Wir sind jetzt gezwungen, all die Systeme, die wir seit unserer Geburt kennen, zu überdenken – und uns zu fragen, wie unsere Welt ohne sie aussehen würde.“
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Uns wird die Entscheidungsfreiheit genommen – zum Besseren
„Seit einigen Jahren haben wir erkannt, dass wir die Menschheit und unseren Planeten nur dann retten können, wenn wir drakonische Maßnahmen ergreifen, um zu ändern, wie wir leben, reisen, konsumieren und uns entertainen. Wir können nicht weiterhin so viel produzieren und den Überfluss aufrecht erhalten, an den wir uns gewöhnt haben. […] Aber die menschliche Psyche scheint das nicht wahrhaben zu wollen und hofft, dass sich die Dinge von allein lösen, während man abwartet, Zeit verplempert und weiter ‘business as usual’ macht. Der plötzliche Stopp von alldem durch das Virus nimmt uns die Entscheidungsfreiheit aus der Hand und wird die Dinge auf ein gemäßigteres, am Anfang vielleicht beängstigend langsames Tempo zurückbringen. […] Zu improvisieren und kreativ zu sein, wird künftig die wichtigste Fähigkeit sein.
Leider gibt es in dieser Krise keine schnelle Heilung. Sobald das Virus unter Kontrolle ist, werden wir das aufsammeln, was übrig ist, und alles wieder von Null aufbauen müssen. […] Wir werden uns an weniger Unterhaltung, weniger Produkte, weniger Newsletter und weniger Pop-ups gewöhnen. Wir werden unsere alten Gewohnheiten ablegen müssen wie bei einem Drogenentzug. […] Wir werden wieder mit einem simplen Kleid zufrieden sein, alte Lieblinge neu entdecken, ein längst vergessenes Buch zur Hand nehmen und viel kochen, um uns das Leben so schön wie möglich zu machen. Das Virus wird unsere Kultur verändern und essentiell dafür sein, eine alternative und komplett neue Lebensweise aufzubauen.”
Li Edelkoort’s Prognose: Uns steht ein Jahrhundert des Handwerks und der DIY-Attitüde bevor
„Wenn wir also klug sind – was wir leider nicht oft sind – werden wir die Chance nutzen, neue Vorschriften festzulegen, die es den Ländern ermöglichen, sich auf ihr Know-how und ihre spezifischen Qualitäten zu besinnen, und ein Jahrhundert der Kunst und des Handwerks einzuläuten, in dem Handarbeit wieder geschätzt wird. Die lokalen Industrien und Aktivitäten vor Ort werden wieder in den Vordergrund rücken und Initiativen, die von den Menschen selbst ausgehen, werden wichtiger werden, wie Tauschhandel, Open Tables, Bauernmärkte, Straßenfeste und eine DIY-Attitüde. Mir scheint, dass meine jüngste Prognose des ‘Age of Amateurs‘ schneller kommen könnte, als ich es erwartet habe.“