Mindestens jeder zweite Abend hat aktuell die Fähigkeit dazu, die beinharte Realität mit an den Esstisch zu tackern. Diese Realität legt sich dann erst über die Pasta, über das geöffnete Bier und schließlich über die gesamte Stimmung, die sich gerade doch noch so normal und ganz okay angefühlt hat, im Nu aber jedes ausgelassene Gemüt und jedes herzhafte Lachen völlig unangemessen erscheinen lässt. Es ist schon komisch, wie sehr und wie schlecht zugleich sich der Mensch an aktuelle Umstände gewöhnen kann. Und wie dann plötzlich nicht mehr jeden Tag, sondern nur noch jeden zweiten, dritten oder vierten ganz dumm aus der Wäsche geschaut wird, immer dann, wenn die Realität so richtig rein-kickt. Und mit ihr der Weltschmerz, die Wut und die Sorge ums Morgen.
Engel links, Teufel rechts
Zwei Seiten kämpfen nämlich aktuell um die Vorherrschaft meiner Gedanken. Die eine Seite ist bestimmt von purer Verzweiflung in Anbetracht der eigenen Situation. Geprägt von Frustration ob des abgesagten Urlaubs, dem Bangen um die finanzielle Zukunft, der Angst um die eigene Familie und von akuter Vermissung, denn eigentlich möchte ich seit Wochen nichts lieber, als meine Mutter umarmen. Von der anderen Seite ermahnt mich immer wieder eine Stimme, die eindringlich daran erinnert, wie gut ich es habe. Dass es besser wird, alles, dass WIR das schaffen und dass die eigenen Bedürfnisse nach Nähe, Freund*innen und Familie für das Allgemeinwohl genau jetzt in den Hintergrund treten müssen – damit WIR am Ende eben in halbwegs ganzen Stücken wieder hier rausfinden.
Ich bin so richtig müde
Ich glaube, es ist ok, davon zwischendurch richtig müde zu werden. Müde von den Nachrichten, von etlichen Memes über Tiger King bishin zu Quarantäne Bingo, von der IBB Warteschlange, den immer gleichen Bananenbroten auf Social Media, den Workouts, den Homeoffices. Den Geschichten über Telkos, Zoom-Fails und Klopapier. Ich bin müde von Linda Zervakis und Ingo Zamperoni. Von schlechten Neuigkeiten und dem guten Wetter, das trotz allem so viele auf die Straßen lockt. Ich bin richtig müde.
Natürlich könnte ich mich jetzt also eigenständig gegenüber all diesen Triggern und Reizen verschließen. Ich liebe es doch aber, Mäuschen zu spielen, erahnen zu können, wie andere den Ausnahmezustand handhaben und Fehlendes kompensieren. Nur ist es eben so, dass ich, wenn andere laufen gehe, Yoga machen und Pflanzen umtopfen, meist noch immer im Bademantel auf der Bettkante meine Fußnägel feile und nahezu lethargisch darauf warte, dass wirklich etwas passieren möge.
Privilegien vs. Subjektives Leid
Was genau da überhaupt passieren soll, weiß ich nicht. Generell weiß ich gerade sehr wenig. Nur, dass das Selbstmitleid hier eigentlich keinen Raum einnehmen sollte und sowieso keinem weiterhilft – und doch: subjektives Leid muss doch trotz alledem eine Daseinsberechtigung haben, oder?
Ich bin am Ende. Und dann kommen wieder Tage, die so stinknormal verlaufen wie ein gewöhnlicher Samstag, Sonntag, Brückentag oder dieser Urlaub auf Balkonien, der in der Vorstellung irgendwie ein bisschen romantischer daher kommt als in der Realität. Minuten später: alles auf Anfang. Weil da die Freundin ist, die Mutter oder die Schwester, die doch viel weiter als eine kleine Spritztour entfernt lebt.
„Ist nicht so schlimm, lass uns endlich wiedersehen, nur kurz um den Block auf 1,5 Meter Distanz“, „Ich will zu meinen Eltern, ich werde schon nichts haben“, „Ich gehe für die Tafel Schokolade noch mal eben zum Supermarkt“. Ich fühle alle Gefühle. Ich will das alles. Das Picknick auf dem Feld, das Bier auf der Bank, die Umarmung von Mami. Ganz bestimmt auch, weil mich der Gedanke daran, wann zur Hölle das nächste, das erste Mal in diesem Jahr wieder Zeit sein wird, um all diese Dinge zu machen.
Subjektives Leid, der Schmerz des Verzichts und die Wut auf das nicht-personifizierte Böse, haben sich seit dieser Woche in mir richtig breitgemacht. Lassen mich handlungsunfähig werden, zu viele Zigaretten rauchen, aus dem Fenster starren. Sie beschämen mich auch – weil ich so ein Glückspilz bin und ich mir die Selbstisolation so schön gestalten kann, wie ich eben will, weil noch Arbeit habe und jeden Morgen die kurzen peinlichen Pausen bei Zoom genießen kann, weil mich täglich gleich zwei ganz besonders tolle Teams durch die staubige Laptop-Linse anstrahlen.
Es wird vorüber gehen
„We will get through this, but I will suffer“, ist irgendwie der Kompromiss zwischen kleinen, vielleicht sogar neu entdeckten Alltagsfreuden und all diesen lähmenden Fragen. Im Moment ist nur eines wichtig: Diese Regungslosigkeit akzeptieren zu lernen, ganz gleich, wann sie sich anschleicht und wie lange sie verweilt. Es wird ein Ende der Isolation geben. Und wir können alle dabei helfen, dass es schneller geht.