Ich weiß, ich weiß – in Zeiten von #stayhome scheiden sich die Geister daran, ob wir nun endlich viel mehr Zeit für all die Dinge finden, die im hektischen Alltag für gewöhnlich hinten rüber fallen, oder eben: Gar keine mehr. Obwohl ich mich persönlich schon allein wegen der komplizierten Kombi aus geschlossenen Kitas und Homeoffice eher zur Gruppe all jener zählen muss, die im Grunde überhaupt nichts mehr so richtig geschissen kriegen, lasse ich mir meine paar Buchseiten am Abend bisher nicht nehmen. Zwar schnarche und schnaube ich dabei im Schnitt schon nach etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten, aber was soll’s – ich habe ja sonst keine Hobbies. Wirklich nicht. Wurde mir tatsächlich auch erst neulich bewusst, als ich dachte: Hurra, Sonntag, das Kind ist versorgt und die Fenster werde ich ganz sicher nicht mehr putzen, also kann ich jetzt ENDLICH – ja, was denn?
Ich sammle weder Heilsteine noch hat mir Backen jemals Spaß bereitet, ich mache Yoga höchstens morgens und um Balkonien muss sich der Mann kümmern, ich habe nämlich andere Talente. Jedenfalls bald. Wenn alles klappt, meine ich. Denn Silvester 2019/2020 habe ich mir bekanntlich überhaupt nichts für das neue Jahr vorgenommen. Außer: Spagat lernen. Und das geht ja auch mit Buch, zum Beispiel mit diesen hier, die zugegeben ein wenig schwerer zu verdauen sind als jene aus den QuarantineReads #1, es aber allesamt gleich doppelt wert sind:
* Triggerwarnung – einige der vorgestellten Bücher enthalten Themen wie sexuelle Gewalt, Essstörungen und den frühen Verlust eines Kindes *
1. Gegen alle Regeln von Ariel Levy
– übersetzt von Maria Hochsieder-Belschner
Ich wollte mich eigentlich entspannen an diesem Tag in den Sauna, mich richtig durchdampfen lassen und das Hirn ausknipsen, hin und wieder ein paar Zeilen lesen, Orangensaft schlürfen und alles wieder von vorn. Hat aber nicht funktioniert – zu viel Ehrlichkeit, zu viel Leben, zu viel Tragik im Spiel. „Gegen alle Regeln“ habe ich mit Handtuch auf dem Kopf durchgelesen. Und nur zum Pipimachen bin ich währenddessen aufgestanden, so festgetackert von Levys Worten war ich:
„Die erfolgreiche New Yorker Journalistin Ariel Levy hat eine aufregende Affäre, eine liebevolle Ehepartnerin und den Wunsch nach einem Kind. Emanzipiert lebt sie nach ihren eigenen Regeln. Doch als sie eine Fehlgeburt erleidet, bricht alles auseinander.Im fünften Monat schwanger reist Ariel Levy nach Ulan Bator in die Mongolei, um für eine ihrer Reportagen zu recherchieren. Kurz nach der Ankunft hat sie starke Schmerzen im Unterleib und bringt ihr Baby allein auf dem Badezimmerboden des Hotelzimmers zur Welt. Für wenige kostbare Minuten lebt ihr Sohn. Traumatisiert von ihrem Verlust und taub vor Schmerz tritt sie einige Tage später die Heimreise an. Ein Anknüpfen an ihr altes Leben ist nicht möglich, denn sie scheint ihrer Identität beraubt: Ihr Körper schreit nach seiner Mutterrolle und verhindert eine Rückkehr in ein vertrautes Frauendasein. Ariels Ehepartnerin Lucy hat sich zu diesem Zeitpunkt in den Alkohol und aus der Beziehung geflüchtet. So zersplittert das selbstdefinierte Leben der 37-Jährigen. Allem beraubt, bleibt ihr nur noch die Liebe zur Sprache.“ |
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2. Süsswasser von Akwaeke Emezi
– übersetzt von Senthuran Varatharajah und Anabelle Assaf
Eines der krassesten Bücher, die ich je gelesen haben, ein Debüt, das sich gewaschen hat, ein Roman wie ein Donnerwetter. Keine Ahnung, wie die nigerianische Autorin Akwaeke Emezi das geschafft hat, aber ich kenne kein zweites Werk dieser Riege, kann weder Vergleiche ziehen noch das Genie hinter all diesen Seiten begreifen. Ich würde deshalb sagen: Das ist neu, das ist groß, lest es bitte unbedingt.
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„Akwaeke Emezi erkundet in ihrem von Kritik und Publikum gefeierten Debütroman Süßwasser, wie es ist, ein gespaltenes Ich zu haben. Und sie zeigt gleichzeitig, wie wir alle unsere verschiedenen Identitäten laufend konstruieren. Ein Buch von wilder Energie und schlangenartiger Eleganz – die Geburt einer neuen ungebändigten literarischen Stimme.Ada wächst im Süden Nigerias auf. Sie ist ein sprunghaftes und schwieriges Kind und ein Quell steter Sorge für ihre Eltern. Adas verschiedene Ichs kommen immer wieder zum Vorschein und rücken vor allem nach ihrem Umzug in die USA immer stärker in den Vordergrund. Nach einem traumatischen Übergriff nimmt Adas Leben eine dunkle und gefährliche Wendung.“ |
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3. Ja heißt ja und… von Carolin Emcke
Ich bin mir wahnsinnig sicher, dass die sauschlaue Carolin Emcke überhaupt keine Fangirls haben will, aber hier sitze ich nun und hebe in Gedanken die Hand, hallo. Den Prolog zu ihrem Werk „Gegen den Hass“ wollte man bereits auf Flugblätter drucken und über den Brauen entleeren. Wenig später folgte „Ja heißt ja und…“ und brachte mich erneut dazu, etwa 7/8 eines Buches in Neonfarben zu markern. Der Status Quo der Gleichberechtigung? Sagen wir mal: Es ist kompliziert.
Wie kann man nach der »MeToo-Debatte« noch über Lust, Macht und Gleichheit denken und sprechen? Für Bestseller-Autorin und Friedenspreisträgerin Carolin Emcke hat die Debatte vor allem eines gezeigt: Es ist ein Gespräch über Missbrauch und Sexualität entstanden, das nicht wieder abgebrochen werden kann. Denn die Fragen bleiben:Welche Bilder und Begriffe prägen unsere Vorstellungen von Lust und Unlust? Wie lässt sich Gewalt entlarven und verhindern? Wie bilden sich die Strukturen und Normen, in die Männer und Frauen und alle dazwischen passen müssen? Was wird verschwiegen, wer muss ohnmächtig bleiben? Wie lassen sich Lust und Sexualität in ihrer Vielfalt ermöglichen – ohne Vereindeutigung? Indem sie eigene Erfahrungen, soziale Gewohnheiten, Musik und Literatur befragt, zeigt Carolin Emcke, wie kompliziert das Verhältnis von Sexualität und Wahrheit immer noch ist. |
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4. Ich habe einen Namen von Chanel Miller
– übersetzt von Yasemin Dinçer, Hannes Meyer und Corinna Rodewald.
Gleich mehrere Male musste ich Chanel Millers in gewaltige Worte gepacktes Protokoll des eigenen Leidensweges aus den Händen legen. Die 28-Jährige geht teilweise über die Schmerzgrenze hinaus – weil sie muss. Und weil sie weiß, dass das ewige Schweigen niemanden beschützen wird.
Unter dem Pseudonym Emily Doe verlas sie vor Gericht einen Brief an den Mann, der sie nach einer Party an der Stanford University vergewaltigt hatte und zu nur sechs Monaten Haft verurteilt worden war. Der Text erreichte Millionen Menschen weltweit, der Kongress debattierte über den Fall, der zuständige Richter wurde abgesetzt, und man änderte die Gesetze in Kalifornien, um Opfer zu schützen. Wortmächtig beschreibt Chanel Miller, wie es sich anfühlt, den eigenen Körper wie eine Jacke abstreifen zu wollen. Wie unsere Gesellschaft über den Alkoholkonsum, die Kleidung und das Liebesleben von Frauen urteilt. Ihre Geschichte zeigt, dass Sprache die Kraft hat, zu heilen und Veränderungen herbeizuführen. |
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5. Oreo von Fran Ross
– erstmals übersetzt von Pieke Biermann
„Schutthalde und Ziergarten zugleich“, so beschreibt Gabriele von Armin den Roman „Oreo“, der bereits 1970 erschien, aber erst jetzt übersetzt und gebührend anerkannt wurde, sehr treffend. 260 Seiten sind das, vollgepackt mit Oreo, der irrsten Heldin, von der wir vielleicht jemals lasen, mit unendlichen Geschichten und zahlreichen Menschen, mit einem schier unlösbaren Rätsel um die Suche nach der eigenen verworrenen Identität, die sich mit allem Erlebten langsam wie ein Mosaik zusammensetzt:
„»Niemand reizt mich ungestraft«, warnt die sechzehnjährige Christine alias Oreo. Als Tochter einer schwarzen Mutter mit sehr heller Haut und eines jüdischen weißen Vaters mit dunklem Teint ist Oreo eine doppelte Außenseiterin. Der Vater machte sich schon früh aus dem Staub, zurück blieb ein Rätsel, das Oreo das Geheimnis ihrer Geburt enthüllen soll. Also auf nach New York: »Den find ich, den Motherfucker.« Dort trifft sie auf einen schwulen »Reisehenker«, der in großen Firmen Massenentlassungen vornimmt, einen stummen Produzenten von Werbespots und einen Zuhälter. Ohne Angst und Respekt stürzt sich Oreo kopfüber in die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Klischees.“ |
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6. Ungleichheit (was wir dagegen tun können)
von Anthony B. Atkinson – übersetzt von Hainer Kober
Weil ich mich nicht auskannte mit diesem Thema, was uns alle etwas angeht, habe ich irgendwann begonnen, mich einzulesen. „Ungleichheit“ – dieses Buch ist meines Erachtens nach ein solides und relativ leicht verständliches Einstiegswerk:
„Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt über 50 Prozent des Weltvermögens – Tendenz steigend. 99 Prozent der Weltbevölkerung diskutieren und verzweifeln, handeln aber nicht. Soziale Ungleichheit ist für Anthony Atkinson, den weltweit führenden Experten, ganz oben auf der »Agenda der Weltprobleme«. Man kann fast alle tagespolitischen Konflikte, die Flüchtlings- und Eurokrise, den Terrorismus und die Kriege im Nahen Osten auf sie zurückführen. Gegen die lähmende Untätigkeit legt der britische Ökonom ein Programm für den Wandel vor und empfiehlt 15 konkrete Maßnahmen für die Bereiche Technologie, Arbeit, soziale Sicherheit sowie Kapital und Steuern. Ein Meisterwerk, das Analyse, Aufklärung, Appell und Handlungsanleitung miteinander verwebt.“ |
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7. Eure Heimat ist unser Albtraum, kuratiert von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah
Ein Buch, das alle, aber wirklich allealle gelesen haben sollten, weil darum:
„Was bedeutet es, sich bei jeder Krise im Namen des gesamten Heimatlandes oder der Religionszugehörigkeit der Eltern rechtfertigen zu müssen? Wie viel Vertrauen besteht nach dem NSU-Skandal noch in die Sicherheitsbehörden? Und wie wirkt sich Rassismus auf die Sexualität aus?Dieses Buch ist ein Manifest gegen Heimat. 14 Autor_innen geben in persönlichen Essays Einblick in ihren Alltag und halten Deutschland den Spiegel vor: einem Land, das sich als vorbildliche Demokratie begreift und gleichzeitig einen Teil seiner Mitglieder als »anders« markiert, kaum schützt oder wertschätzt.“ |
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8. Das Café der Existenzialisten von Sarah Bakewell
– übersetzt von Rita Seuß
Ich habe mich so, so, so, so sehr über das Erscheinen dieses Buches gefreut, dass ich am Tag der Veröffentlichung erstmal ganz ehrfürchtig ein paar alte Platten raus kramen musste, um es mir später mit diesem Schinken und mächtig viel Nostalgie im Bauch gemütlich zu machen. Herrlich war das, als wir damals im ersten oder zweiten Semester meinten, wir seien Sartre, Camus und de Beauvoir auf den Spuren, ja gar waschechte Existenzialist*innen, bloß weil wir im schwarzen Rollkragenpullover aus Kaschmir in verrauchten Kneipen über Freiheit, Selbstbestimmung oder die Absurdität des Daseins schwadronierten. Wenn ich ehrlich bin, habe ich erst später begriffen, worum es da eigentlich ging. Oder geht. Sarah Bakewell hat nämlich nachgeholfen, auf ganz wunderbar unterhaltsame Weise:
„Wie macht man Philosophie aus Aprikosencocktails? Für Sartre kein Problem: Er machte Philosophie aus einem Schwindelgefühl, aus Voyeurismus, Scham, Sadismus, Revolution, Musik und Sex. Sarah Bakewell erzählt mit wunderbarer Leichtigkeit, wie der Existenzialismus zum Lebensgefühl einer Generation wurde, die sich nach radikaler Freiheit und authentischer Existenz sehnte. Ihre meisterhafte Kollektivbiographie der Existenzialisten ist zugleich eine höchst verführerische Einladung, die existenzialistische Lebenskunst heute neu zu entdecken.“ |
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9. Ein bisschen Sonne im kalte Wasser von Françoise Sagan
– übersetzt von Sophia Sonntag
Komme, was wolle, ich werde immer Liebesromane lesen, solche, die von gewagten Affären handeln, von langen Sommern und und längst vergangenen Zeiten und ich werde dabei kopfüber und mit größtem Vergnügen in Klischees ersaufen, mir währenddessen einen Piccolo in der Abendsonne hinter die Binde kippen oder die Zehen in den Sand stecken, während mir ein bunter Schirm Schatten spendet. Dieses hier ist einer meiner liebsten. Vielleicht auch, weil, naja: Sagan forever.
„Gilles, Redakteur bei einer Pariser Tageszeitung, erfolgreich und gutaussehend, führt ein ausschweifendes Junggesellenleben. Trotzdem leidet er unter Depressionen und sucht Erholung in der Provinz. Dort trifft er Nathalie, die Gilles mit ihrer Unbefangenheit und Offenheit entwaffnet. Ohne Zögern lässt sie ihren reichen Ehemann und ihr angenehmes Leben hinter sich und folgt Gilles in einem Strudel der Leidenschaft nach Paris. Dort jedoch fühlt sich die kluge und ernsthafte Frau wie ein Fremdkörper zwischen Gilles‘ oberflächlichen Freunden, und der wankelmütige Gilles zweifelt plötzlich an seinen Gefühlen.“ |
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10. Hunger von Roxane Gay
– übersetzt von Sabrina Gander
Ihr Körper ist ihre Festung: Die Memoiren der großartigen Autorin, Feministin und Professorin Roxane Gay handeln von Traumata, Körperidealen und Schmerz, davon, wie es ist, 261 Kilogramm zu wiegen, weil man sich nach einer Schutzhülle sehnt, um einen jahrzehntelangen Kampf und ein Verlangen, das nicht gestillt werden kann: „Nach Essen, aber auch nach Akzeptanz und Zufriedenheit,“ wie sie selbst sagt. Gay schreibt, worüber andere schweigen und damit ein Buch geschaffen, das überfällig war:
„Sie schreibt die Geschichte ihres Hungers. Sie schreibt die Geschichte ihres Körpers. Es ist keine Geschichte des Triumphs. Es ist die eines Lebens, das in zwei Hälften geteilt ist. Es gibt das Vorher und das Nachher. Bevor sie zunahm und danach. Bevor sie vergewaltigt wurde und danach. Roxane Gay, eine der brillantesten, klügsten und aufregendsten weiblichen Stimmen der USA, erzählt eine Geschichte, die so noch nie geschrieben wurde: schonungslos offen, verstörend ehrlich und entwaffnend zart spricht sie über ihren »wilden und undisziplinierten« Körper, über Schmerz und Angst, über zwanghaftes Verlangen, zerstörende Verleugnung und Scham – „Ich war zerbrochen, und um den Schmerz dieser Zerbrochenheit zu betäuben, aß ich und aß und aß.““ |
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