Wer hat schon einmal Gott des Gemetzels gesehen? In dem Theaterstück von Yasmina Reza, das später auch verfilmt wurde, sind Rezipient*innen ein paar Stunden der Absurdität und den Abgründen des Menschseins ausgesetzt. In einer Situation, die banaler und alltäglicher nicht sein könnte und sich trotzdem hochzuschaukeln vermag, als würden den Protagonist*innen Anstand, Moral und jegliches Gespür für menschliche Kommunikation bis auf das letzte Bisschen flöten gehen. Wohnungsbesichtigungen sind für mich Gott des Gemetzels in Kleinstform. Nur im Kopf versteht sich, aber dennoch. Nachdem sich alle Parteien gegenseitig musternd, höflich lächelnd und latent herausgeputzt vor der Wahlimmobilie eingefunden haben, erscheint eine wildfremde Person, die in den kommenden zwanzig Minuten die Personifikation des Schicksals zu sein scheint. Honigsüß, höflich, diskret aber auffällig zugleich, kämpfen die mehr oder weniger hoffnungslosen Fälle um die Gunst der Stunde, der Wohnung, der Maklerin. Beim Gedanken an die erste Besichtigung für ein neues Dach über dem Kopf stellen sich mir die Nackenhaare hoch. Das letzte Mal ist drei Jahre her und ich frage mich, wie zum Henker ich die Tortur zwischen Massenbesichtigung, Absagen-Marathon und Anspruchsreduzierung überleben konnte.
Den Ausnahmezustand auf dem deutschen Wohnungsmarkt brauche ich den wenigsten zu schildern und auch vom Lamentieren über die Leiden der armen alleinstehenden Menschen wie mir, die mit wenig Druck und recht guten Konditionen nach einem Heim suchen, auch nicht. Was ich besprechen will, ist die Absurdität des Boulen ums Menschlichste, das Anbiedern für ein Zuhause und die persönliche Kränkung, wenn es mal wieder nicht geklappt hat mit dem Mietvertrag der Träume. Schon früh habe ich verstanden, dass alte Mietverträge nur noch zum Tausch angeboten werden und in eine Bewerbungsmappe heute viel mehr gehört, als eine lupenreine Schufa. Mit Schrecken stelle ich jedoch fest, dass mir das Bevorstehen der Ellenbogenmentalität auf Makler*innen-Terminen schon zu schaffen macht, bevor ich die erste Wohnung in diesem Suchzyklus besuchen konnte.
Vorher:
Der lächerliche Teil meines Kopfes ist schon jetzt davon überzeugt, diese Immobilie (Neukölln, Dachgeschoss, Terrasse, ein Traum und BEZAHLBAR) verdiene weitaus mehr als irgendeine Person, die sich in wenigen Tagen mit mir, einer Maske und zwei weiteren Fremden die 60 Quadratmeter anschaut, die ich in meinem Kopf schon seit Sichtung der Anzeige eingerichtet habe. Ebay Kleinanzeigen Merkliste? Check! Küchenplanung? Check! Bewerbungsmappe? Druckfrisch und bereit zum Abflug.
Wie verhalte ich mich richtig, wenn ich vorhabe die Person, die die Besichtigung durchführt, nicht zu verschrecken, aber gleichzeitig als unglaublicher Zugewinn im Gedächtnis zu bleiben? Da im Zweifelsfall alle Anwesenden bessere, unbefristetere und prestigeträchtigere Jobs haben als ich, ist der Eindruck, die Farbe meines Pullovers oder die Prägnanz meines Afros das einzige, was mir noch bleibt. Meine letzte Wohnung habe ich bekommen, weil die Tochter der zuständigen Sachbearbeiterin bei der Hausverwaltung den gleichen Beruf hatte, wie die Bürgin meiner ehemaligen Mitbewohnerin. Ja, ich weiß. Das muss man sich mal vorstellen. Reines Glück. Wie käme ich also umhin, nicht schon vorher mit dem Kopf im Sand das bevorstehende Happening mit Ehrfurcht zu erwarten, stets bestrebt daran zu glauben, dass es irgendwie schon klappen wird.
Nachher
Nach den nächsten Zeilen würde man meinen, ich hätte den Berliner Wohnungsmarkt als kompletter Neuling betreten. Diese Wohnung war so schön, dass ich die letzten zwei Nächte weder durchschlafen, noch davon ablassen konnte, mir, euphorisch und verblendet wie ich bin, einen Grundriss mit zugehörigem Pinterest Board zu erstellen. Wie von allen guten Geistern verlassen war ich am Morgen vor der Besichtigung nach der Suche nach der passenden Signalfarbe für mein Outfit und channelte innerlich gemeinsam mit drölf alarmierten Freund*innen die guten Geister, das Schicksal oder wen auch immer. Jetzt, so kurz danach, fühle ich mich wie nach einem Bewerbungsgespräch, auf das es wirklich ankommt, in welchem das Pokerface des Gegenübers unleserlich war.
Das Boulen um die Aufmerksamkeit einer anwesenden Hausverwalterin ist noch unangenehmer als ein Small Talk in der Büroküche. Ohnehin war dieser Fund ein absoluter Glückstreffer auf Ebay Kleinanzeigen. Die Anzeige war nicht länger als eine Stunde online, die Bewerber*innen-Zahl bis auf zehn Menschen begrenzt und der Preis unschlagbar. Während wir zu dritt durch die Dachgeschosswohnung tigerten, unterhielt sich Frau F. mit einem interessierten Pärchen. Ich vertrieb mir die Zeit mit der Aufnahme unzumutbarer Bilder mit meiner verschmierten Handykamera und dem Belauschen des Gesprächs, was die arme Frau heute noch mindestens zehn Mal würde führen müssen. Ein junger Mann, der platzhirschig mit leeren Phrasen um sich warf, um das Gespräch bei der Stange zu halten, kam mir zuvor. Fernwärme, Einbauküche, Kellerzugang. Ich habe mich vielleicht noch nie chancenloser gefühlt.
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So ganz ohne unbefristetes Angestelltenverhältnis und beeindruckende Vermögensnachweise, dafür aber mit einem gelben Wollpullover und lädierten Sneakern stand ich da und wartete auf meine Chance, als mein Vorgänger die Dachtrasse nach seiner Verabschiedung erneut betrat, um in einem Nebensatz fallen zu lassen, dass er jahrelang selbst in einer Hausverwaltung gearbeitet hatte und ja um ihre Verantwortungsbereiche bestens Bescheid wisse.
Als ich an der Reihe war, faselte ich etwas von schlaflosen Nächten, dem Bedürfnis nach einem ruhigen und hellen Lebensmittelpunkt und dem Verständnis gegenüber ihrer Bürde sich die immer gleichen Geschichte und Fragen mindestens einen ganzen Vormittag anhören zu müssen. Ich verließ den fünften Stock mit bebenden Fingern und rauchte auf dem kurzen Weg zu meiner Haustür all die Zigaretten, die ich davor hätte rauchen wollen, mich aber dagegen entschied, um vor Ort auf gar keinen Fall als Raucherin gelesen werden zu können.
Just in diesem Moment, 3 Tage später und um zwei schlaflose Nächte reicher, habe ich noch zwei Mal im Büro der kleinen Hausverwaltung angerufen und überlege gerade, ob es das dritte Mal besser oder schlechter machen könnte. Neben einer haptischen Mappe (Deckplatt in Farbe), habe ich die Unterlagen direkt nach der Besichtigung digital eingereicht und mir dabei nicht nehmen lassen, ein Extrabild von mir in den Mailanhang zu zerren, damit sie direkt weiß, von wem die trostlosen Kontoauszüge stammen, die sich in der PDF verbergen.
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So froh ich bin, dass diese aufregendste aller Wohnungsbesichtigungen, weil ich es doch so gefühlt habe, schon lange bevor ich die 60 Quadratmeter betrat, endlich vorbei ist, so ratlos und ängstlich ließ sie mich auch zurück. Darüber nachzudenken, wie viel Hoffen und Bangen mir im Projekt eigene Wohnung noch bevorstehen würde, ganz abgesehen davon, dass ich ja sehr genau weiß wie viele Menschen mein aktuelles Schicksal teilen, macht mich mürbe. Vor allem mit der weisen Voraussicht, dass das Leben in dieser Stadt eine solche Tortur nicht zum letzten Mal mit sich bringen wird. Ist es überhaupt zumutbar, dass das verzweifelte Suchen, Bangen und Hoffen auf zu teure Kleinstwohnungen als gegeben akzeptiert wird, obwohl Wohnraum, in dem man sich wohlfühlen will, so natürlich und notwendig zugleich ist? Klares nein. Und trotzdem sitzen alle Suchenden im selben Boot, wenn sie panisch Hausverwaltungen belagern und ausgedehnte Smalltalks führen.
Nicht resigniert, aber ernüchtert scrolle ich also weiter durch Ebay Kleinanzeigen und gebe mich vorerst damit zufrieden, meine Ansprüche etwas herunterzuschrauben und einen Immobilienscout Membership abzuschließen, damit ich zumindest darauf hoffen kann, zu der ein oder anderen Besichtigung eingeladen zu werden. Bis dahin träume ich von Küchenböden in Schachbrettmustern, Dachtrassen und Tageslichtbädern, die bestimmt noch woanders in dieser Stadt darauf warten, von mir bezogen zu werden.
*Anmerkung der Redaktion: Die Einleitung wurde nach berechtigter Kritik angepasst.