Was habt ihr die vergangenen Monate gelernt? Jetzt mal ehrlich. Über euch, eure Beziehung, die Gesellschaft, unsere Welt? Ich merke allmählich, wie sich in mein Gedächtnis Rückblicke in den März, der mir erscheint wie aus einem anderen Jahrhundert und der vergangenen Woche zugleich, einschleichen. Im März, da habe ich gemeinsam mit etlichen Nachbarn regelmäßig den Kopf aus dem Fenster gesteckt und die Straße beobachtet. Im Innenhof drehten währenddessen Kleinkinder auf Laufrädern ihre Runden und ein junges Paar stimmte mit stimmlicher Begleitung das Akkordeon an. Ich habe lange auf den Knall gewartet, in dem sich alles ganz normal anfühlt, und habe mir gleichzeitig schon oft eingestehen müssen, wie verängstigend ich alles abseits des Ist-Zustands finden könnte. Wenn es um mich geht, habe ich gelernt, dass ich doch um einiges mehr Ruhe brauche, als ich mir selbst einzugestehen vermag. „Was habt ihr den den letzten Monaten gelernt?“, haben wir die Community gefragt, und die Antworten sind unterschiedlicher, als ich mir hätte ausmahlen können.
„Ich habe gelernt, dass ich ausschalten muss, nicht alles zu machen, wie die anderen. Ich bin eigentlich keine besonders angepasste Person und sehne mich doch immer mehr nach Normkonformität, als mir eigentlich lieb ist. Der gleiche Lebenslauf, der gleiche Lebensstandard, Aufwärtsvergleich, Lebensrhythmus. Corona und der Stillstand haben mir gezeigt, woher diese Gefühle kommen, dass ich sie nur schwer kontrollieren kann und dass es mir hilft, diese Emotionen zu akzeptieren, anstatt sie zu leugnen, zu dämonisieren oder wegzuschieben.“
„Ich habe gelernt ,wie wichtig es ist, auf meine Bedürfnisse zu hören. Das klingt für viele so klar und easy, war für mich aber ein riesiger Akt, der mit der gegebenen Zeit und Momenten zum Nachdenken erst so richtig ins Rollen kam. Ich bin ein Crowdpleaser. Ich will es allen recht machen. Doch wenn alle keine Einflussnehmenden auf meinen Alltag sind, kein Chef, nicht die Fernbeziehung und auch nicht die Freund*innen, konnte ich genau das machen, was ich wollte. Ich habe Angst vor dem, was sich wieder verändert, wenn es vorbei ist.“
„Geld zu sparen. Endlich. Mit Anfang dreißig hätte ich mir gewünscht, schon lange an diesem Punkt angelangt zu sein, aber heute kann ich endlich sagen, dass ich es erfolgreich geschafft habe, mir eine gewisse Summe zur Seite zu legen, für die erste Post-Corona Reise zum Beispiel oder einen neuen Computer, den ich einfach gerne hätte. Ich lebte nie von der Hand in den Mund, freue mich aber total etwas Finanzielles entscheiden zu können, ohne auf den nächsten Gehaltscheck zu warten.“
„Ich wäre lieber später Mutter geworden. So viel Zeit zum Nachdenken, so viele Momente des Verharrens. Ich liebe meinen Sohn, aber ich hätte noch ein paar Jahre für mich gebraucht. Eigentlich weiß ich das seit dem ersten Schwangerschaftstest. Ist das schon Regretting Motherhood? Ich bereue ja nichts, aber denke oft an das, was ich machen würde, hätte ich keine Familie zuhause. Das tat die letzten Wochen oft weh, auch wenn es genau in dieser Zeit eigentlich nichts zu machen gab.“
„Dass mein Job die Hölle ist. Dass ich so froh bin, gerade nicht hingehen zu müssen, dass mir die Vorstellung wieder anzufangen, Bauchschmerzen bereitet. Dass ich jeden Tag verschenkt finde, den ich bei der Arbeit verbringe. Dass es mich nicht erfüllt. Dass ich meine Kolleginnen nicht mag. Dass ich zu schlecht bezahlt werde. Dass ich nach all dem Stress endlich Zeit habe, darüber nachzudenken, und nächste Woche meine Kündigung einreichen kann.“
„Ich habe gelernt, dass mein Ordnungsfimmel impliziert ist. Früher, da habe ich immer alles sauber und ordentlich gehalten in der Befürchtung, dass ja bald Gäste zufällig einfallen könnten und dann angeekelt auf Zahnpastareste, Haare im Abfluss und dreckige Töpfe stoßen. Ich dachte dann „ah ja stimmt ich liebe Ordnung ja auch“, aber eigentlich ist es Quatsch. Ich lasse gerne Sachen liegen, lebe die ganze Woche so, wie es mir passt, und genieße dann ein paar Stunden am Wochenende, um alles für den Montag wieder frisch zu haben. Ganz einfach. Und wenn keiner zu Besuch kommt, gibt es auch keine blödsinnigen Befürchtungen vor Verurteilung.“
„Ich habe gelernt, dass ich es absolut bereue, mir einen Hund angeschafft zu haben. Dafür werde ich bestimmt in den Kommentaren verachtet, aber auf engem Raum, so lange Zeit, mit einem Vierbeiner? Das war irgendwie zu viel und ich hoffe, dass wir uns wieder einpendeln, wenn sich das Rausgehen und Unterwegssein vollends entspannt hat.“
„Ich habe gelernt, dass ich mir selber nicht genüge. Ich will einen Partner, ich will eine Familie, ich will all das, wofür ich meine Eltern noch vor ein paar Jahren verurteilt habe.“
„Ich habe gelernt, dass das bedingungslose Grundeinkommen das einzige ist, das unserer Gesellschaft vor dem Breakdown bewahren kann.“
„Ich habe gemerkt, wie viel Sex ich eigentlich brauche und dass mein Partner einfach nicht genug ist.“
„Ich habe gelernt, dass das Bedürfnis ein Hobby zu haben, für mich nicht internistisch, sondern aufgezwungen ist. Ich will nur Serien gucken, Gemüseschnitzel essen und mich zwischen Couch und Bett bewegen, wenn ich frei habe.“
„Ich habe nichts gelernt. Ich fühle Leere und Trauer und Angst. Vorher waren es Sorge, Respekt und Ehrfurcht. Ich habe höchstens gelernt, zu akzeptieren, wie unglaublich viele Gefühle ich tagtäglich fühle. Ich bin ein sehr sensibler Mensch und die letzten Monate haben mir so sehr zu schaffen gemacht. Ich musste aufhören, Tagesschau zu schauen, habe eine Instagram Pause gemacht und mich isoliert. Ich konnte all das nicht hören. Von den Homeoffices konnte ich nichts hören, aber auch nicht von „Nature is Healing“ oder Töpferprojekten. Das hat mich so gestresst, weil ich wie versteinert darauf gewartet habe, dass ich aufwache und sich alles wieder normal anfühlt. Und jetzt, wo es sich fälschlicherweise normal anfühlt, habe ich vor allem Angst davor, dass uns all dieser Horror noch einmal droht. Uns und so vielen anderen Ländern weltweit. Ich kann manchmal gar nicht in Worte fassen, was für eine Angst mir das macht. Auch wenn ich weiß, dass meine Gefühle oft weniger rational, sondern aus dem Bauch heraus entstehen, habe ich mich von ihnen in den letzten Monaten eingeschlossen gefühlt und hoffe einfach darauf, dass ich mich in dieser senstiv-emotionalen Form bald noch besser akzeptieren lernen kann.“
„Ich habe gelernt, dass ich wirklich wirklich wirklich nur ein Kind will. Mein Sohn ist drei. Das war’s bei mir.“
„Ich habe gelernt, mich mit meinem Weißsein auseinanderzusetzen.“