Coronaöffnungsangst: Warum ich noch nicht bereit für den Alltag bin

Als der Covid19-Schlamassel anfing, dachte ich: In ein paar Wochen ist das vorbei. Als feststand, dass es in ein paar Wochen nicht vorbei sein würde, dachte ich sehnsüchtig an all die Dinge, die ich irgendwann wieder tun könnte. In einem Café sitzen. Freund*innen treffen. In eine Bar gehen. Ein bisschen durch die Geschäfte bummeln. Im Park abhängen. Vielleicht sogar Urlaub machen. Jetzt, wo der Alltag zu großen Teilen zurückgekehrt ist und die meisten Beschränkungen aufgehoben sind, merke ich zu meiner eigenen Überraschung, dass ich zögere. Dass ich gar nicht so euphorisch bin, wie ich gedacht hätte.

Aber vielleicht ist das auch gar nicht so überraschend: Erstens ist Corona ja noch nicht vorbei – sondern etwas, mit dem wir leben müssen, solange, bis ein Impfstoff gefunden ist. Perspektivisch müssen wir noch monatelang in der Öffentlichkeit Mund- und Nasenschutz tragen und uns an die Abstandsregeln halten. Zweitens geht eine globale Pandemie nicht einfach spurlos an einem vorbei. Jede*r ist davon betroffen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weisen. Für mich fühlt es sich an, als habe ich eine Wunde, die immer noch nicht richtig verheilt ist. Man fasst sie nur vorsichtig an, tastet die empfindlichen Wundränder ab, um zu schauen, ob der Heilungsprozess voranschreitet.

Im Kokon

Die letzten Wochen und Monate waren, natürlich, in vielerlei Hinsicht schwierig. Finanzielle Einbußen, die Angst um Freund*innen und Verwandte, die zur Risikogruppe gehören, der Stress, den jeder Supermarktbesuch auslöste, und die Tatsache, dass ich, weil ich alleine wohne, wochenlang keinen anderen Menschen auch nur berührt habe. Gleichzeitig ging es mir aber gut: Ich musste mich schließlich nur um mich selbst kümmern und neben meiner Arbeit (die ich glücklicherweise noch hatte) nicht beispielsweise noch Kinder betreuen. Meinen Frühling hatte ich mir zwar anders vorgestellt, aber ich nutzte die Zeit der Selbstisolation, um ungestört an meinem neuen Buch zu schreiben. Das E-Mail-Volumen in meinem Posteingang nahm drastisch ab, alles schien irgendwie aufgeschoben.

 
 
 
 
 
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Ein Beitrag geteilt von Lila Lefranc (@lila.lefranc) am

Als klar wurde, dass das noch auf unbestimmte Zeit so weitergehen kann, kam plötzlich die große Explosion. E-Mails en masse, Dinge, die dringend geklärt, Leseproben, die vorbereitet und Projekte, die angegangen werden müssen. Wochenlang hatte ich es mir in meinem Kokon gemütlich gemacht, hatte viel, aber effektiv gearbeitet, weil es schlicht keine Ablenkungen beruflicher oder privater Natur gab. Dann, von einem Tag auf dem anderen, schien die ganze Welt wieder im Arbeits- und Produktivitätsmodus zu sein – und ich war heillos überfordert. Ich fühlte mich gestresst und dachte: Hilfe! Ich glaube, ich will das noch nicht!

Der Wunsch, alles richtig zu machen

Das war zu einem Zeitpunkt, als Merkel & Co noch darüber diskutierten, wann was geöffnet wird, ich also immer noch bequem in meiner Wohnung hockte. Seitdem sind Wochen und Monate ins Land gegangen, aber diesen Gedanken („Ich will das noch nicht!“) bin ich nicht richtig losgeworden. Auch jetzt nicht, wo ich wieder in einem Café sitzen oder in meinem Lieblingsbuchladen vorbeischauen könnte. Ich fühle mich nicht bereit und das geht offenbar nicht nur mir so – in letzter Zeit habe ich einige Artikel zu dieser sogenannten „reopening anxiety“ gelesen. Auf Vox schreibt Eleanor Cummins:

„While some people are ready to rub shoulders with strangers, others will be apprehensive about returning to the social sphere, in part because without a vaccine, leaving our homes will come with a real risk of infection. But anxieties about resuming public life have also been magnified by our months indoors, with the lack of exposure to people and places only intensifying our fears about the outside world.”

Ich habe noch nicht einmal Angst davor, dass ich selbst krank werde, eher davor, andere unwissend zu infizieren. Ich will alles richtig machen – und habe trotzdem das Gefühl, ständig irgendwelche Regeln zu brechen, von denen ich gar nicht wusste, dass sie existieren. Vor einigen Wochen war ich mit zwei Freund*innen in einem Park, wir hielten alle brav Abstand zueinander und natürlich auch zu den anderen Menschen im Park, eineinhalb Meter mindestens, so, wie wir es gelernt hatten. Bis die Polizei auftauchte und uns darüber aufklärte, dass der Abstand zu anderen Personen außerhalb unserer Gruppe fünf Meter zu betragen habe. Ich konnte das nicht glauben. Ich hatte doch (dachte ich), sämtliche Regeln nachgelesen und war bereit, diese zu befolgen. Und jetzt das – ich schämte mich.

 
 
 
 
 
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Ein Beitrag geteilt von Gemma Correll (@gemmacorrell) am

Grenzen setzen

Es ist so, als müsste ich neu lernen, wie man sich in der Öffentlichkeit verhält. Vor allem muss ich lernen, auf meinen Grenzen zu bestehen. Beispiel Supermarkt: Normalerweise bin ich so höflich, dass es an Lächerlichkeit grenzt – Menschen können sich vordrängeln oder mir ihren Einkaufswagen in die Hacken schieben, mehr als einen bösen Blick werden sie von mir nicht bekommen. Und jetzt? Finde ich es nicht nur unhöflich, wenn hinter mir in der Schlange jemand steht, der mir praktisch in den Nacken atmet, ich finde es rücksichtslos und unverantwortlich. Also mache ich meinen Mund auf, weise die Person höflich auf die Abstandsregeln hin – und komme mir blöd und pedantisch vor.

Ein anderes Beispiel: Verabredungen. Einige meiner Freund*innen stürzen sich voller Begeisterung in dieses „new normal“, gehen abends in eine Bar oder tagsüber in einen überfüllten Park und planen ihren Auslandsurlaub. Und dann bin da ich, diejenige, die es alles etwas ruhiger angehen lassen möchte, die abwartet, abwägt. „Nein“ zu sagen macht wirklich keinen Spaß.

Ich bin mir sicher, ich werde mit der Zeit entspannter. Aber momentan befinde ich mich in einem großen Lernprozess. Ich muss mir fast täglich Fragen stellen: Womit fühle ich mich wohl? Wo sind meine Grenzen? Wann muss ich „Stop“ sagen? Ich bewege mich aus meinem Kokon – langsamer, als ich gedacht hätte, aber stetig. Nachher will ich mich endlich mal wieder in ein Café setzen, ganz alleine, nur mit einem Buch. Und, na klar, dem Mundschutz

TAGS:

6 Kommentare

  1. Tanja

    Mir geht es auch so und ich weiß gar nicht ob ich überhaupt in das Alte zurückkehren möchte. Ich genieße dieses langsame Tempo, die Möglichkeit mich selbst zu fühlen, zu spüren was mir gut tut und was nicht. Mir fällt es auch noch schwer Grenzen zu setzten, aber ich werde immer besser und ich hoffe sehr das die Welt sich dauerhaft auf ein langsameres Tempo einstimmt. Ich habe das Gefühl das es die Vorraussetzung dafür schafft, wieder ganz Neu ins Miteinander zu gehen – ohne soviel Ablenkung drumherum und einer klareren Sicht auf das was wir als Gesellschaft wirklich brauchen.

    Antworten
  2. Georgina

    Sorry, aber das können nur Privilegierte sagen, die zuhause arbeiten können. Ich bin seit Wochen draußen und treffe bei meiner Arbeit unzählige Menschen – ob ich will oder nicht. und ob ich mich dabei wohlfühle oder nicht, interessiert keinen!

    Antworten
    1. Ich

      Sorry Georgina,
      aber vielleicht solltest du in deinem Frust trotzdem offen für andere Perspektiven bleiben. Du hast ja auch deine eigene. Ich könnte nämlich auch zu dir sagen, dass SOWAS nur Privilegierte wie du sagen können, die ZUMINDEST EINEN JOB HABEN. Merkste selber, ne?

      Antworten
      1. Mareike

        Hallo! Wir alle haben das recht, diese Gefühle zu haben, egal, wer wen da grad zu privilegiert für hält!
        Mir geht es auch so! Obwohl ich einen Job mit Menschen habe und nicht zuhause arbeiten kann und obwohl ich drei Kinder habe! Auch ich habe ein Problem mit dem „back to normal“- volle Kanne! Ich tue mich schwer, die Kinder wieder zu den Hobbys zu bringen, Freunde zu treffen, Termine zu machen. Es fühlt sich auch so an, als hätte die Welt noch nicht gelernt, dass langsamer unserer Psyche gut tun kann. Und Konsum nicht die Lösung sein kann!
        Ich danke dir für den Text, Julia! <3

        Antworten
  3. Sarah

    Ich kann dich gut verstehen. Mir geht es genau so und ich fühle mich damit ziemlich alleine. Alle meine Freunde sind munter wieder draußen unterwegs und treffen sich mit vielen Leuten und ich fühle mich einfach immer verunsicherter, gerade jetzt wo die Zahlen wieder steigen…

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mehr von

Related