Vor einigen Wochen wurde auf Instagram eine französische Karikatur geteilt, die eine Gruppe Menschen in einem Museum zeigt. Das Ausstellungsstück, das sie betrachtet: ein BH. Dazu erklärt eine Museumsführerin, dass BHs vor langer langer Zeit von Frauen getragen wurden – damals, vor Corona. Die Karikatur spielt einerseits auf die durch wochenlange Selbstisolation bedingte #coronafashion an – Leggins, Schlabberpullis, kein BH – und andererseits darauf, dass viele Frauen Büstenhalter als unbequem empfinden und, wenn sie könnten, gerne häufiger darauf verzichten würden. Dank Corona konnten sie, denn im Home Office zählten vor allem Bequemlichkeit und Wohlfühlfaktor (#coronafashion eben). Warum also einen BH tragen? Der Lockdown ist – vorerst – Geschichte, man ist ins Büro zurückgekehrt und trägt wieder Hosen, die über keinen elastischen Bund verfügen. Aber BHs? Darauf scheinen immer mehr Frauen verzichten zu wollen. Die Buzzfeed-Redakteurin Tomi Obaro schrieb auf Twitter:
So gaben in einer Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstituts IFOP, sieben Prozent der befragten Frauen an, seit Ende des Lockdowns größtenteils auf den BH zu verzichten (zum Vergleich: vor dem Lockdown waren es nur drei Prozent – was das Klischee der Französin als stets barbusige Marianne infrage stellen dürfte). Von den befragten Frauen unter 25 Jahren wollen sogar 18 Prozent dauerhaft keinen BH tragen. Der Hauptgrund: Bequemlichkeit. Warum sich in einen BH quetschen, wenn man im Home Office doch gemerkt hat, wie viel angenehmer es ohne ist?
Irgendwie unanständig
Ja, warum? Eigentlich sollte die Sache doch ganz einfach sein: Wer sich mit BH wohlfühlt, trägt einen, wer lieber BH-los unterwegs ist, trägt eben keinen. Doch so einfach ist es leider nicht – wie immer, wenn es um den weiblichen Körper geht. Jahrzehntelang wurde Frauen eingeredet, ein BH-loses Dasein würde zu Hängebrüsten führen. Dann hieß es plötzlich, nein nein nein, BHs sind gefährlich und stellen ein Gesundheitsrisiko dar. Womit sich zumindest eine Wahrheit über das Frausein mal wieder bestätigte: Wie man es macht, macht man es falsch. Trotzdem gilt: Dass sie einen BH tragen wird von Frauen schlicht erwartet. Freischwingende Brüste gelten als anstößig und sexuell aufreizend, als irgendwie unanständig. In der bereits erwähnten IFOP-Umfrage waren 34 Prozent der Befragten – Männer und Frauen – der Meinung, Frauen, die keinen BH tragen, würden Blicke auf sich ziehen wollen. Und 20 Prozent der Befragten fanden sogar, in Fällen sexualisierter Übergriffe solle die Tatsache, dass eine Frau keinen BH trägt, als mildernder Umstand für den Täter gelten. Es ist die alte Leier vom zu kurzen Rock, der so dermaßen provozierend auf Männer wirkt, dass diese sich nicht beherrschen können. Kein Wunder, dass über die Hälfte der befragten Frauen in der IFOP-Umfrage angab, Angst vor körperlicher oder sexualisierter Gewalt zu haben, wenn sie keinen BH tragen.
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Und deshalb ist es auch im Jahr 2020 für Frauen immer noch ein radikaler Akt, in der Öffentlichkeit keinen BH zu tragen. Weibliche Brüste gilt es einzupacken und zu verstecken, sie in eine ansprechende Form zu bringen. Wie werden heute die radikalen Feminist*innen der 1970er Jahre belächelt, die – angeblich – ihre BHs verbrannten, diese Werkzeuge der Unterdrückung. Damals ging es feministisch bewegten Frauen darum, ein Zeichen zu setzen. Keinen BH zu tragen bedeutete, über den eigenen Körper zu bestimmen. Es bedeutete, sich zu weigern, weibliche Brüste einzig und allein als sexuellen Anreiz für Männer zu verstehen. Noch heute ist „den BH ausziehen“ nicht nur eine Handlung, sondern auch eine Redewendung: Sie steht für Selbstbestimmtheit und Freiheit, dafür, das zu tun, was man will, dafür, zu sein wie man ist. Die amerikanische Singer-Songwriterin RaeLynn hat über dieses Gefühl sogar ein Lied geschrieben. Darin singt sie:
„Breaking up with you was like taking my bra off
Feeling free and loose like this T-shirt I got on
Yeah I should be crying, grieving some kind of loss
But it’s like taking this pink and lacy, suffocating bra off”
Ab in die Wäscheschublade
Wenn BHs von vielen Frauen als einengende Apparatur empfunden werden, die sie nun, dank Corona, dauerhaft in der Wäscheschublade verschwinden lassen, dann vor allem deshalb, weil BHs lange Zeit genau so waren – einengend, unbequem. Man denke nur an die tütenförmigen Konstruktionen der 1950er und 1960er Jahre. Doch in den letzten Jahren hat sich in diesem Bereich einiges getan. Verantwortlich dafür ist auch der Trend hin zu Wellness und Athleisure (Sportkleidung, die in der Freizeit getragen wird). Man will sich in seiner Kleidung wohlfühlen, sich etwas Gutes tun. Und das geht nun einmal besser mit einem Seamless-Sport-BH aus atmungsaktivem Material und ohne störende Nähte, als in einem herkömmlichen Bügel-BH mit Push-Up-Effekt. Mittlerweile bieten fast alle Unterwäsche-Hersteller*innen bügellose BHs an. Das Angebot wurde an die Nachfrage angepasst.
Auch Corona wird dem Büstenhalter wohl nicht den Todesstoß versetzen. Noch sind die gesellschaftlichen Konventionen rund um dieses Stück Stoff zu rigoros. Noch müssen Frauen mit Belästigung und ungewollter Aufmerksamkeit rechnen, wenn sie sich – vor allem im Sommer – ohne BH in die Öffentlichkeit wagen. Noch gilt es als unprofessionell, im Büro ohne brustverhüllendes Beiwerk aufzutauchen. Noch sind BH-lose Brüste und sichtbare Nippel nur dann okay, wenn sie zum Vergnügen und Anreiz des männlichen Geschlechts gezeigt werden. Und doch: Rihanna verzichtet selbstbewusst auf einen BH, in den sozialen Medien wehren sich Frauen unter dem Hashtag #freethenipple gegen die Zensierung von weiblichen Brüsten und Brustwarzen, und durch Corona haben viele Frauen wohl zum ersten Mal damit experimentiert, nicht täglich einen BH zu tragen. Ach, wäre das schön. Wenn Covid-19 irgendwann, in einigen Jahren, einer der Gründe dafür wäre, dass von Frauen nicht mehr automatisch erwartet wird, einen BH zu tragen. Dass sie einen BH tragen können, wenn sie wollen – es aber nicht müssen.
Bilder in der Collage: The Calmm