In letzter Zeit habe ich viel über den feministischen Slogan „Das Private ist politisch“ nachgedacht. Eine Parole, die scheinbar mühelos durch Zeit und Raum gereist ist, und heute noch genauso aktuell klingt wie damals. Weil sie an etwas rührt, eine Wahrheit in Worte fasst. Der Grund für meine Überlegungen ist, natürlich, Corona: Ein Virus, durch das wir alle zurückgeworfen waren auf das Private, Häusliche – und das uns nach und nach realisieren ließ, wie politisch das Private tatsächlich ist. Wir sahen Mütter, die im Lockdown plötzlich wieder als Rundumversorgerin für Kinder und Haushalt zuständig waren. Und Väter, die im Home Office signifikant produktiver waren. Anders als sonst ließ sich das Ganze nicht mit der „natürlichen“ weiblichen Tendenz zu Teilzeitarbeit und Kinderbetreuung wegerklären. Corona zeigte in aller Deutlichkeit, wie sehr vermeintlich persönliche Entscheidungen von Frauen das Ergebnis gesellschaftlicher Machtstrukturen, Denk- und Handlungsweisen sind.
Praxis der Selbsterfahrung
Die Formulierung „The personal is political” wird oft der US-amerikanischen Feministin Carol Hanisch zugeschrieben. Sie veröffentlichte 1970 einen Artikel mit diesem Titel in Notes from the Second Year: Women’s Liberation, einer Sammlung feministischer Grundlagentexte. Doch der Titel ihres Essays, das hat Hanisch seitdem immer wieder betont, stammt nicht von ihr, sondern von den Herausgeberinnen der Sammlung, Shulamith Firestone und Anne Koedt. Im Text selbst tauchte die Formulierung „the personal is political“ nur indirekt auf: Hanisch schrieb über die Wichtigkeit sogenannter „consciousness-raising“-Gruppen, in denen Frauen über die verschiedenen Arten sprachen, auf die sie unterdrückt wurden. Im Fokus standen dabei persönliche Erfahrungen und Themen wie Sexualität und Mutterschaft. Ziel war es, diese Erfahrungen nicht als – im Zweifelsfall selbstverursachte – Einzelschicksale zu begreifen, sondern als Ausdruck eines gesellschaftlichen, patriarchalen Musters.
Diese feministische Praxis der Selbsterfahrung wurde von vielen männlichen Linksaktivisten als lächerlich abgetan. Was sollte es bringen, seine persönlichen Probleme öffentlich zu diskutieren? Was für eine Nabelschau! Für Carol Hanisch und ihre Mitstreiter*innen allerdings waren die Treffen eine Form politischen Handelns. In Hanischs Worten: „Eines der ersten Dinge, die wir in diesen Gruppen entdecken ist, dass persönliche Probleme politische Probleme sind. Es gibt zurzeit keine persönlichen Lösungen. Es gibt nur kollektives Handeln für eine kollektive Lösung.“ Die Feststellung „Das Private ist politisch“ öffnete vermeintlich persönliche Erfahrungen für politische Analysen. Sie machte bestimmte Dinge erst diskutier- und dadurch verhandelbar. Sie war eine Aufforderung, sich nicht vereinzeln zu lassen. Shulamith Firestone betonte in ihrem Klassiker Frauenbefreiung und sexuelle Revolution: „Die feministische Bewegung ist bis jetzt die einzige, die den persönlichen und den politischen Bereich wirksam verbindet. Der Feminismus hat ein neues Bezugssystem entwickelt, einen neuen politischen Stil, der mit der Zeit das Persönliche – immer schon eine weibliche Domäne – mit der Politik der ‚Außenwelt‘ in Einklang bringen wird und damit dieser Welt ihre Emotionen und – im wahrsten Sinne des Wortes – ihre Sinne wiedergeben kann.“
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Die Frage, die Firestone, Hanisch und andere Feminist*innen der 1970er Jahre aufwarfen, war die nach der Trennung der gesellschaftlichen Sphären in privat und öffentlich – eine Trennung anhand von Geschlechterlinien. Warum wurden Frauen, obwohl sie seit Jahrzehnten das Wahlrecht hatten und zunehmend einer Erwerbsarbeit nachgingen, automatisch der privaten, häuslichen Sphäre zugeordnet? Und die Männer automatisch der öffentlichen, politischen? Diese Trennung, das machten die Feminist*innen klar, war nicht natürlich: Frauen der Arbeiter*innenklasse beispielsweise waren auf eine außerhäusliche Erwerbsarbeit angewiesen und hatten noch nie den Luxus, einfach zu Hause bleiben zu können.
Was ist politisch – und was nicht?
Ich finde, die Überzeugung, dass persönliche Erfahrungen politische Bedeutung haben, ist auch heute noch radikal. Wie oft habe ich schon gehört, Feminist*innen sollten lieber über die wirklich wichtigen Themen sprechen als über Manspreading in der U-Bahn. Generell: Wie oft hören Frauen, sie sollten sich nicht so anstellen, nicht aus allem so ein Drama machen? Persönliche Erlebnisse werden immer noch zu oft als genau das abgetan: als persönlich. Als Dinge, die keine gesellschaftliche Relevanz haben. Gleichzeitig wird der Slogan „Das Private ist politisch“ entgegen seiner ursprünglichen Intentionen immer wieder dazu benutzt, Feminist*innen zu diskreditieren und unter Druck zu setzen – indem er so interpretiert wird, dass er meint: Jede persönliche Handlung oder Entscheidung ist politisch. Anders gesagt: Wenn eine Feministin sich schminkt und Interesse an Mode hat, dann kann sie keine gute Feministin sein, denn schließlich kritisiert der Feminismus weibliche Schönheitsideale. Wer sich Feminist*in nennt, so die Annahme, muss eine*e „perfekte“ Feminist*in sein (eine Annahme, die der Comedy-Podcast The Guilty Feminist mit den Eingangsgeständnissen, die jede Show eröffnen, parodiert: „I’m a feminist, but…“). Im Ergebnis bedeutet das: Schon sind wieder Frauen das Problem, nicht die Gesellschaft und die darin verfestigten Machtstrukturen. Weil es allein individuelle Entscheidungen sind, die zählen. Und für die gilt es, individuelle Lösungen zu finden – genau das, was Carol Hanisch in den 1970ern so leidenschaftlich ablehnte.
Parallel zu den gerade beschriebenen Phänomenen – der anhaltenden Vereinzelung weiblicher Erfahrungen und der Druck, dass persönliches feministisches Handeln sich stets im Einklang mit politischem feministischem Handeln befinden sollte – ist mir in den letzten Monaten und Jahren eine entgegengesetzte Entwicklung aufgefallen: Persönliche Erfahrungen werden zunehmend fetischisiert. Als die Autorin Kate Elizabeth Russell im März 2020 ihren Debütroman My Dark Vanessa veröffentlichte, in dem es um eine sexuelle Beziehung zwischen einer 15-Jährigen und ihrem 30 Jahre älteren Englischlehrer geht, kam schnell die Frage auf, ob die Geschichte auf persönlichen Erlebnissen basiert. Schließlich sah Russell sich gezwungen, ein Statement zu veröffentlichen, in dem sie klarstellte: Ja, der Roman ist durch verschiedene Erlebnisse in ihrer Jugend inspiriert. Aber warum ist das überhaupt relevant? Russells Buch ist ein Roman, keine Autobiografie. Sie sollte ihre persönliche Geschichte nicht als Berechtigung präsentieren müssen, diese fiktionale Geschichte erzählen zu dürfen. In ihrem Statement schreibt Russell: „Ich glaube nicht, dass wir Opfer dazu nötigen sollten, Details ihres persönlichen Traumas mit der Öffentlichkeit zu teilen.“
Ein weiteres, aktuelles Beispiel für die Fetischisierung persönlicher Erlebnisse ist die Diskussion über Black Lives Matter. People of colour werden ständig, ob privat oder in der Öffentlichkeit, dazu aufgefordert, ihre Erfahrungen mit Rassismus zu teilen – vorgeblich, damit weiße Menschen besser verstehen können, was Rassismus überhaupt ist. Im Kern geht es dabei aber um Rechtfertigung: People of colour müssen beweisen, dass das, worüber sie reden – institutionalisierter und gesellschaftlicher Rassismus – überhaupt existiert. Dass sie ihn selbst erlebt haben. Persönliche Erlebnisse werden so zu einer Währung. Wer als legitim anerkannt werden möchte, wer will, dass ihm*ihr geglaubt wird, wenn er*sie ein Problem benennt, muss sich preisgeben. Sich heute mit den Implikationen von „Das Private ist politisch“ auseinanderzusetzen, bedeutet also auch, sich zu fragen, wessen persönlichen Erfahrungen Wert beigemessen, welchen persönlichen Erfahrungen eine politische Dimension zugestanden wird. Marginalisierten Gruppen wird oft nicht zugehört, wenn sie von ihren Erlebnissen berichten wollen. Man lässt sie nicht zu Wort kommen. Stattdessen spricht man über sie. Auch der Feminismus hat in dieser Hinsicht noch einiges zu lernen.
Theorie und Praxis
In einer Einleitung zu ihrem 1970er-Essay schrieb Carol Hanisch 2006: „Politischer Kampf oder Debatte ist der Schlüssel zu guter politischer Theorie. Eine Theorie ist nur ein Bündel von Wörtern – manchmal interessant zum Nachdenken, aber trotzdem nur Wörter – bis sie im wahren Leben überprüft wird. So manche Theorie hat Überraschungen geliefert, sowohl positiv als auch negativ, wenn ein Versuch unternommen wurde, sie in die Tat umzusetzen.“ Wenn der Slogan „Das Private ist politisch“ auch heute so oft zitiert wird (und nicht nur im feministischen Kontext), dann deshalb, weil er immer noch nachhallt. Es lohnt sich also, ihn vor falschen Auslegungen in Schutz zu nehmen – und in einem dynamischen Prozess zu hinterfragen, was er bedeutet, bedeuten kann und sollte.