Die Medizinerin Kristina Hänel muss sich Vergleiche mit Ärzten in Konzentrationslagern nicht länger gefallen lassen: Ein Gericht verklagt den Betreiber der Seite „Babykaust“ auf 6000 Euro Schmerzensgeld.
Als ich selbst vor ein paar Jahren ungewollt schwanger wurde, trotz Spirale, versuchte ich zunächst, einen klaren Kopf zu bewahren, mich sachlich über eine eventuelle Abtreibung zu informieren, Wissen und Erfahrungsberichte zu sammeln. Um möglichst unbeeinflusst von meiner Außenwelt handeln zu können, und zwar ganz ungeachtet dessen, in welche Richtung sich die mit Sicherheit gut gemeinten Ratschläge meiner Familie und Freunde entwickelt würden, machte ich die ersten Tage dieser Zeit deshalb bewusst mit mir allein aus – und dem Internet. Ich googelte was das Zeug hielt und begriff schnell: Hier läuft etwas ganz Grundlegendes schief.
Schon nach wenigen Klicks hatte ich mich weit entfernt von seriösen und medizinisch wie psychologisch fundierten Hilfestellungen und Informationen. Stattdessen prasselte eine Flut von zutiefst religiösen, dogmatischen, populistischen und stigmatisierenden Beiträgen und Kommentaren auf mich ein. Ich fand mich in Foren wieder, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, all jene massiv anzufeinden, welche sich aus mannigfaltigen und darüber hinaus sehr persönlichen Gründen gegen das Austragen einer ungewollten Schwangerschaft entschieden hatten. Kindsmörderin – das war noch vergleichsweise harmlos. Bewegungs- und fassungslos blieb ich zurück – auch wegen der deutschen Gesetzgebung, von der ich bis dato offenbar nicht die leiseste Ahnung hatte. Zunächst einmal: Abtreibungen sind hierzulande noch immer illegal (§ 218), bleiben aber unter gewissen Voraussetzungen und Bedingungen ( §218a) straffrei. Reicht noch nicht?
Bis heute wird unser Recht auf Informationsfreiheit und Frauen*gesundheit massiv beschnitten und verletzt. Zwar erhielt der Strafrechtsparagraf 219a mit seiner Reform 2019 eine Ergänzung, die besagt, dass Ärzt*innen inzwischen öffentlich darüber informieren dürften, dass sie Abbrüche vornehmen, er verbietet es Mediziner*innen jedoch weiterhin, auf ihren Praxis-Websites dem so unendlich wichtigen Aufklärungsauftrag allumfassend nachzugehen – und seriös über die verschiedenen Arten von Abbrüchen sowie die dazugehörigen Abläufe zu informieren. Für sich allein betrachtet erscheint allein dieser Umstand im Jahr 2020 bereits verstörend und leichtfertig. Noch absurder wird es, wenn man sich vor Augen führt, dass zutiefst menschenverachtende Websites wie etwa „Babykaust“ weiterhin und in all ihrer rechtlichen Daseinsberechtigung unsachliche Parolen in die Welt hinaus posaunen dürfen, fern jedweder Pietät. Obwohl dort, um an dieser Stelle nur einen einzigen rhetorischen Abgrund der dort tätigen und selbst ernannten „Lebensschützer*innen“ zu nennen, von einem „Massenmord an unseren ungeborenen Kindern“ die Rede ist, wenn eigentlich Schwangerschaftsabbrüche gemeint sind.
„Betroffene stoßen auf ihrer oft verzweifelten Suche nach neutralen Informationen, die Ärzt*innen ja verboten sind, noch immer häufig und dazu völlig unvorbereitet auf die Webseite von Abtreibungsgegnern“, erklärt Kristina Hänel (Quelle: Edition F).
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Welche Spuren all das Gesagte auf Seiten wie jenen des offenkundigen Abtreibungsgegners Klaus Günter Annen in der Psyche der (unfreiwillig) Mitlesenden hinterlassen kann, lässt sich erahnen – für eine Studie diesbezüglich hätte Jens Spahn seine 5 Millionen also tatsächlich sehr sinnvoll einsetzen können. Denn ohne jeden Zweifel stellen derartige Fehlinformationen sowie die fortbestehende gesellschaftliche Stigmatisierung für Betroffene, die eine selbstbestimmte Entscheidung treffen können sollten, noch immer die größten Bürden und seelischen Verletzungen da.
Ein Glück, dass Ärztinnen und Aktivistinnen wie Kristina Hänel noch immer nicht die Puste ausgegangen ist. Die Gynäkologin wurde vor allem durch ihr Aufbegehren gegen radikale Abtreibungsgegner*innen und ihre Kritik an Paragraf 219a bekannt.
Nachdem sie von Klaus Günter Annen abermals Drohmails erhalten habe, u.a. weil sie selbst Schwangerschaftsabbrüche durchführt, entschied sie sich schließlich dazu, Anklage zu erheben: „Für mich war letztes Jahr der Punkt erreicht, an dem ich sagte: Es reicht! Es kann nicht angehen, dass ausgerechnet in Deutschland Menschen es wagen, den Holocaust zu relativieren und ihn damit zu verharmlosen“, erklärt sie ihre Entscheidung zur Klage.
„Klaus Günter Annen stellt mich und andere Ärztinnen und Ärzte auf eine Stufe mit den Verbrechern des Nationalsozialismus, die in den Konzentrationslagern Menschen unter schrecklichsten Bedingungen gequält und getötet haben. Mit seinen Holocaustvergleichen (auf der Website) diffamiert Herr Annen nicht nur uns Ärztinnen und Ärzte, sondern auch jede ungewollt Schwangere. Sie bekommt vermittelt, dass das, was sie tut, schlimmer sei als die Verbrechen der Nazis„, schreibt Hänel in ihrer Pressemitteilung zum Verfahren. |
Und behält, ganz offiziell, Recht.
Das Landgericht Hamburg hat dem Betreiber der Website Babykaust laut Angaben der ZEIT verboten, bei Äußerungen über die Gießener Ärztin Kristina Hänel Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust zu vergleichen. Neben besagten Holocaust-Vergleichen veröffentlichte der bekannte Abtreibungsgegner zudem eine Liste von 1.200 Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland anbieten – und bezeichnete diese als „Entartete“. Auch das müsse sich Hänel nicht weiter bieten lassen, befand das Gericht. Klaus Günter Annen wurde in einem Prozess am Freitag auf 6.000 Euro Schmerzensgeld verklagt.
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„Was in den Konzentrationslagern geschah, ist auch Jahrzehnte danach kaum fassbar“, so Hänel. Vor diesem Hintergrund habe niemand das Recht, Opfer dieser Gräueltaten zu verhöhnen. „Wir befinden uns dieses Jahr 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Wir gedenken der Opfer eines Unrechtsregimes. Immer noch ist es unsere gesellschaftliche Aufgabe, uns in Würde und Anstand unserer Vergangenheit zu stellen, um Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen“.
Und weiter:
„Es geht nicht, dass ein Staat sachliche Informationen von Fachleuten verbietet, die dringend benötigt werden, aber Fehlinformation, Hass und Hetze mit unzulässigen Holocaustvergleichen zulässt. Hier hat das Gericht heute eine deutliche Grenze gezeigt. Dafür bin ich dankbar.“
Das deutsche Auschwitz-Komitee hatte den Seitenbetreiber zum Auftakt des Prozesses ebenfalls scharf kritisiert. So auch Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main, der in Reaktion auf die schlussendliche Verurteilung Annens deutliche Worte fand:
„Wer Schwangerschaftsabbrüche mit der systematischen Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus gleichsetzt und Ärztinnen und Ärzte mit faschistischen Mördern, muss gestoppt werden. Das Hamburger Gericht setzt ein wichtiges Signal gegen einen bestens vernetzten rechten Hass-Aktivisten.“
Ein Unbekannter ist Klaus Günter Annen bei alldem nicht – seit Jahren schikaniert er Betroffene, Gynäkolog*innen und Wissenschaftler*innen, er organisiert Proteste und Demonstrationen, hetzt, droht, wütet, ruft dazu auf, Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, zu verklagen, redet von „Kinds-Tötern“ und dem sogenannten „Babykaust“.
„Nicht nur Kristina Hänel hat aufgrund solcher Vergleiche mit Anfeindungen und Todesangst zu kämpfen. Viele Gynäkolog*innen sind Drohungen und Angriffen von Abtreibungsgegener*innen in Deutschland meist schutzlos ausgeliefert. Die Tendenz, dass Gynäkolog*innen Schwangerschaftsabbrüche anbieten, sinkt in Deutschland daher zunehmend. Das Problem: Die deutsche Gesetzgebung stärkt gerade Menschen wie Annen den Rücken, in dem sie die Verfolgung und Anklage von Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen durch Paragraphen wie §218 und §219a begünstigt“, merkte das Kollektiv Stimmrecht gegen Unrecht zudem sehr richtig an. |
Auch Hänel selbst will mit ihrer Strafanzeige gegen Klaus Günter Annen das Verhalten und Handeln radikaler Abtreibungsgegner*innen in das öffentliche Bewusstsein rücken, denn die 6.000 Euro Strafe werden ihn uns seine Bagage wohl kaum von weiteren Schikanen abhalten. Das vermutet auch Mendel:
Klaus Günter Annen sei kein verwirrter Querulant und stehe mit seiner Verleumdungstaktik nicht allein da. „In der Szene der Abtreibungsgegner*innen sind Geschichtsrevisionismus und Holocaust-Vergleiche beliebte Topoi, um Schwangerschaftsabbrüche zu skandalisieren, ungewollt Schwangere einzuschüchtern und Mediziner*innen zu diffamieren.“ (Quelle: Pressemitteilung Bildungsstätte Anne Frank)
Weil Annens Anwalt sich beim Prozess am Freitag nicht wie angekündigt per Video dazu geschaltet hatte, handelt es sich laut Presse übrigens um ein Versäumnisurteil. Der verurteilte Pro-Life-Aktivist könnte daher binnen zwei Wochen Einspruch erheben – bringen würde es ihm mit großer Wahrscheinlichkeit aber rein gar nichts. Was nicht heißt, dass der Kampf gewonnen ist. Bis wir tatsächlich von uneingeschränkter körperlicher und sexueller Selbstbestimmung sowie einem allumfassend gegebenen Recht auf Informationsfreiheit und Frauen*gesundheit sprechen können, muss noch viel passieren.
Die Abschaffung des Paragrafen 219a wäre nach wie vor ein wichtiger und überfälliger Schritt, der außerdem relativ leicht umzusetzen wäre – wer Menschen mit Uterus und auch Ärzt*innen nicht grundsätzlich misstraut, dürfte mit der Streichung jedenfalls keine Probleme haben. Dass unsere Regierung dennoch an dem veralteten Nazi-Paragrafen festhält, lässt sich mit Menschenverstand also längst nicht mehr erklären.