Dass man eine Pause braucht, merkt man ja oftmals erst dann, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Ich glaube, das ist so eine Art Gesetz, von dem viele liebend gerne Gebrauch machen. Da trottet man gemütlich durch das Leben, und ehe man sich versieht, ist es bloß noch ein Dauersprint, im Kopf das monotone Mantra von Self-Care, Achtsamkeit und Entschleunigung — Hygge ging bereits unterwegs verloren oder kam vielleicht gar nicht erst an? Ist ja auch nicht weiter schlimm, im Hintergrund brennt schließlich schon längst die dritte Duftkerze (irgendwas mit Lavendel) und wenn die nicht hilft, vertreibt man die bösen Geister eben mit Palo Santo. Nur die Geister im Kopf, die bleiben noch ein Weilchen länger, der rauchige Geruch duftet so schön und ist irgendwie auch ganz gemütlich — ach, da ist es ja doch, dieses Hygge. Man muss sich eben bloß ein bisschen mehr Mühe geben, um es zu finden.
Die teure Duftkerze ist mir irgendwann heruntergefallen. Das Glas ist in tausend kleine Stücke gesprungen und plötzlich wars das dann mit der vorgegaukelten Entspannung. Die mickrigen Scherben starrten mich vorwurfsvoll an, während ich sie mit einem kleinen, von Staub zerfressenen Handfeger auf eine Schippe manövrierte. Die Überreste der Kerze stehen nun ganz nackt ohne Hülle auf einem dicken, gläsernen Untersetzer. Ich habe sie seither nicht mehr angezündet und bin stattdessen in den Urlaub gefahren. Zweieinhalb Wochen lang.
Die ersten vier Tage waren urplötzlich vorbei. Eigentlich weiß ich gar nicht mehr wirklich, ob sie überhaupt geschehen sind. Das heißt, natürlich sind sie geschehen, auf dem Kalender zumindest. Doch ob ich so wirklich richtig anwesend war, habe ich irgendwie vergessen. Die Achtsamkeit, von der meine frühere Therapeutin immer sprach, hatte sich jedenfalls noch nicht blicken lassen und ich beschloss, sie unter „Mythos“ abzuspeichern und das Kapitel zu schließen. Dass irgendetwas anders war, habe ich schließlich erst zu Beginn der ersten Woche gemerkt.
Natürlich war es kein riesiger Urknall, vielmehr waren es Kleinigkeiten, aber die können bekanntermaßen ja auch schon einen Unterschied machen. Es war der häufigere Griff zum Buch, den ich in den Wochen zuvor mehr aus Pflichtbewusstsein tätigte, es war meine Lust, mich anzuziehen, mich näher mit meiner Kleidung zu beschäftigen, ganz ohne zu glauben, ich müsse es nun irgendwem präsentieren — außer eben mir selbst. Das „mir selbst“ ging unterwegs ein bisschen verloren und sowas passiert ja nicht etwa plötzlich, sondern eben schleichend, sodass man selbst es gar nicht mehr mitbekommt. Und ehe man sich versieht, hat man auch schon fast vergessen, wer man eigentlich ist.
Manchmal passiert so etwas. Vor lauter Dauersprint merkt man nicht, dass man sich unterwegs verliert, mindestens drei Mal im Kreis läuft und die Richtung wechselt, bis man gar nicht mehr weiß, wohin man überhaupt gehen wollte. Mich jedenfalls hat meine Pause nach einem ersten Dusel wieder daran erinnert. Nicht etwa, weil ich mich belesen, Kerzen angezündet oder meditiert habe, sondern weil ich mir tatsächlich einmal Zeit genommen habe, um zur Ruhe zu kommen. So viel, dass wieder ein bisschen mehr „Ich“ zum Vorschein kam, weil ich ihm die Chance ließ, statt es in ständigem Tun und Sein und Machen zu ersticken. Und am Ende die Erkenntnis: Ich bin nun einmal am meisten ich selbst, wenn ich wirklich entspannt bin. Und dann kann es auch mal reichen, einfach eine Duftkerze anzuzünden (aktuell: irgendwas mit Meeresbrise).