Rest in Power: „Women Belong In All Places Where Decisions Are Being Made“ – Warum wir Ruth Bader Ginsburg niemals vergessen dürfen

Vor einigen Monaten zeigte ich meiner mittlerweile 87-jährigen Oma ein Foto von Ruth Bader Ginsburg. Die Richterin, gekleidet in ein Shirt mit dem Aufdruck „SUPER DIVA“, stemmte Hanteln, ihr Blick hinter der schwarzgerahmten Brille war konzentriert. 

„Ist das nicht toll?“, sagte ich zu meiner Oma. „Ruth Bader Ginsburg ist genauso alt wie du!“ 

„Mh“, antwortete sie, unbeeindruckt.

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Ich weiß nicht genau, was ich bezwecken wollte. Sicher nicht, dass meine Oma, die dank ihrer Atherosklerose kaum noch laufen kann, nun ebenfalls zu den Hanteln greift. Oder sich ein „SUPER DIVA“-Shirt anzieht. Vielleicht wollte ich einfach nur sagen: Guck mal Oma, diese Frau hat ihr Leben lang gekämpft, und sie kämpft noch weiter. Ist das nicht toll? Am Freitag vergangener Woche (Ortszeit) hat Ruth Bader Ginsburg ihren letzten Kampf endgültig verloren, sie starb an den Folgen einer Pankreas-Krebserkrankung. Ich konnte es nicht fassen. Ungeachtet der Tatsache, dass Ginsburg 87 Jahre alt und krebskrank war, hatte ich doch irgendwie gehofft, sie würde ewig leben. Zumindest so lange, bis Trump nicht mehr Präsident ist.

Die sozialen Medien waren voller Tribute an die verstorbene Richterin, aber auch voller Schmerz und Hilflosigkeit: Was soll jetzt nur werden? Jetzt, wo so eine wichtige und sichtbare Kämpferin für die Gleichberechtigung nicht mehr da ist? Jetzt, wo ihr Sitz am Obersten Gerichtshof neu besetzt werden kann – von Donald Trump? Doch Zeit zum Trauern bleibt kaum, denn schon schmieden die Republikaner*innen Pläne, Ginsburgs Nachfolge noch vor der Präsidentschaftswahl im November zu regeln. Womit sie ihre eigene, 2016 unter Obama aufgestellte Regel, brechen. Und so weicht die Trauer Wut, Wut darüber, dass der Tod einer feministischen Ikone und Pionierin nun für politische Zwecke instrumentalisiert wird, dass all das, wofür Ruth Bader Ginsburg gekämpft hat, nun in Gefahr ist.

Große Kämpferin

Und gekämpft hat sie. Geboren 1933 als Tochter einer jüdischen Familie in Brooklyn, war Ruth Bader Ginsburg in Harvard eine von nur neun Studentinnen unter mehr als 500 männlichen Kommilitonen. Dem Dekan gegenüber mussten sie und ihre Kommilitoninnen sich rechtfertigen, warum sie mit ihrer Anwesenheit Männern die Plätze stehlen. Obwohl sie 1959 als Jahrgangsbeste ihr Studium abschloss, erhielt Ginsburg kein einziges Jobangebot. Weil sie eine Frau war, natürlich, eine jüdische mit kleinen Kindern noch dazu. Sie biss sich durch. Bis zum Obersten Gerichtshof, an den Bill Clinton sie 1993 berief – als erste zweite Frau in der Geschichte dieser Institution.

Da hatte sich Ruth Bader Ginsburg schon den Ruf einer großen Kämpferin für die Gleichberechtigung erarbeitet: In den 1970ern vertrat sie sechs Fälle von Geschlechterdiskriminierung vor dem Obersten Gerichtshof, fünf davon gewann sie. Ihre Strategie bestand darin, sich in jedem der Fälle auf eine bestimmte Art von Diskriminierung zu konzentrieren, und so zu zeigen, wie vielfältig Diskriminierung aufgrund des Geschlechts aussehen kann. Sie arbeitete sich vor, Stück für Stück, Fall für Fall. Das sei, sagte sie einmal, wie „einen Pullover zu stricken“. Ihre Fälle wählte Ginsburg sorgfältig aus, oft vertrat sie männliche Kläger – zum Beispiel einen Witwer, der zu Hause bleiben und sich um seinen kleinen Sohn kümmern wollte.

Ginsburgs Feminismus war pragmatisch, genau wie sie selbst. Ihr ging es darum, Rollenbilder und Geschlechterstereotype aufzubrechen, und zwar für Frauen und Männer. Misstrauisch begegnete sie Regelungen und Gesetzen, die Frauen vorgeblich zu ihrem eigenen Wohl und Schutz bestimmte Rechte und Chancen verwehrten. Das Podest, auf welches Frauen gestellt würden, so Ginsburg scharfsichtig, könne schnell zum Gefängnis werden. Wäre sie nicht so eine zurückhaltende und höfliche Frau gewesen, die viel Wert auf gute Umgangsformen legte, man könnte sagen: Ruth Bader Ginsburg hat traditionellen Geschlechterrollen den Mittelfinger gezeigt. Und warum auch nicht – zu Hause schwang ihr Mann Marty, ein charismatischer und erfolgreicher Steuerrechtsanwalt, den Kochlöffel, während die Kinder in Angst und Schrecken vor Mummys Kochkünsten lebten.

 
 
 
 
 
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The Notorious RBG

Wie so vielen anderen wurde mir die Existenz Ruth Bader Ginsburgs erst seit 2013 richtig bewusst, als sie die per Mehrheitsentscheid gefällten Urteile des Obersten Gerichtshofs – dem sie selbst ja angehörte – scharf kritisierte. Dafür wählte sie den eher selten genutzten Weg eines „dissent“, einer Gegenmeinung, die sie von ihrem Platz aus vortrug. „I dissent“, erklärte sie entschlossen, immer und immer wieder, geschmückt mit ihrem speziellen „dissent“-Kragen, den sie zu diesen Gelegenheiten über ihrer schwarzen Robe trug. Und so wurde Ruth Bader Ginsburg auf ihre alten Tage zu etwas, mit dem sie wohl kaum gerechnet hatte: zu einer popkulturellen Ikone. Ginsburg war nun The Notorious RBG, ihr Konterfei zierte T-Shirts, ein hunzeliges kleines Gesicht mit riesiger Brille, Sprüche wie „You can’t spell truth without Tuth“ wurden auf Tassen gedruckt. Es gab eine Doku über Ginsburg und einen Film, in dem sie von Felicity Jones gespielt wurde.

Dass Ginsburg trotz mehrerer Krebserkrankungen, Verletzungen durch Stürze und anderen Gesundheitsproblemen stoisch ihrer Arbeit nachging, brachte ihr Bewunderung ein – aber auch Kritik. Viele finden, sie hätte damals, mit Anfang 80, aufhören sollen, als Obama noch Präsident war. Das hätte ihm erlaubt, einen liberalen Nachfolger (oder eine Nachfolgerin) zu berufen. Doch Ginsburg wollte nicht gehen. Irin Carmon, Co-Autorin des Bestsellers Notorious RBG: The Life and Times of Ruth Bader Ginsburg schreibt in ihrem Nachruf: „Einer der Gründe, warum Ginsburg so unwillig war in Rente zu gehen, könnte der sein, dass sie, wie viele Frauen ihrer Generation, so lange brauchte, um eine Chance zu bekommen, und noch länger, um die Person zu werden, die sie sein sollte.“ Kann man ihr das verdenken? Ich kann es nicht. Ginsburg rechnete außerdem damit, dass auf Barack Obama Hillary Clinton folgen würde. Ein Fehler, den so viele machten.

Seit Trump die USA regiert, ist Ginsburg vom Meme zur Retterin geworden, zur Anführerin der #resistance. Oder eher: Man hat sie dazu erklärt. Ohne sie, so die – nicht unberechtigte – Befürchtung, würde die konservativ-reaktionäre Mehrheit im Obersten Gerichtshof siegen, hart erkämpfte Rechte wie das auf Abtreibung rückgängig gemacht. So lasteten auf den Schultern einer alten Dame, nur knapp über eins fünfzig groß und so zerbrechlich wirkend, die Hoffnungen von Demokrat*innen und linken Aktivist*innen – und vor allem von Frauen.

 
 
 
 
 
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Das System ist kaputt

Was dabei in Vergessenheit geriet: Ruth Bader Ginsburg war nur eine Frau. Eine außergewöhnliche Frau, ja, eine, die wie kaum eine andere das Projekt Gleichberechtigung in den USA konkret, geduldig und erfolgreich vorangebracht hat. Die fand, Frauen gehören überall dorthin, wo Entscheidungen getroffen werden. Die fand, auch Männer können zu Hause bleiben und ihre Kinder betreuen.

Aber auch eine Frau, die zunehmend älter und kränker wurde. Wie verrückt, von ihr zu erwarten, dass sie allein eine ganze Demokratie vor dem Zerfall retten kann. Das heißt nicht, dass Ginsburg und das, was sie erkämpft hat, nicht zählt.

Aber sie war Teil eines kaputten demokratischen Systems, eines Systems, an das sie selbst so fest glaubte. Sie glaubte an die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen demokratischen Institutionen und über ideologische und Parteigrenzen hinaus, an Konsens, und daran, dass die wirklich wichtigen politischen Vorhaben nicht vom Obersten Gerichtshof beschlossen, sondern im Kongress initiiert werden sollten. Doch so funktioniert es schon lange nicht mehr und die traurige Ironie ist, dass nun genau dieses kaputte System von Ginsburgs Tod profitiert.

„May her memory be a revolution” heißt es in den sozialen Medien. Die demokratische Kongress-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez fordert: „Do not be cynical. Do not give up.“ Ich denke wieder an das Bild von Ruth Bader Ginsburg in ihrem „SUPER DIVA“-Shirt und an meine Oma. Was ich ihr sagen wollte, ist vielleicht einfach das: Heutzutage gibt es für Mädchen und Frauen viele Vorbilder, aber nur wenige die so sind, wie Ginsburg. Eine alte, zähe Frau in einer machtvollen Position, hellwach, unerschrocken, klug und unabhängig. Im Training wie im Leben eine Wucht.

 

 
 
 
 
 
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4 Kommentare

    1. Iamsarahmfuende

      Dieser Artikel hat mich echt zum weinen gebracht. Ich konnte es nicht fassen als ich von ihrem Tod hörte.

      Antworten
  1. Stefanie

    Schöner Artikel über eine wirklich interessante Frau! In der ZDF Mediathek kann man im Moment auch die Doku „RBG- Ein Leben für die Gerechtigkeit“ streamen, als Tipp für diejenigen die sie noch nicht gesehen haben, ist wirklich zu empfehlen.

    Antworten
  2. Clarissa

    Vielen vielen Dank, liebe Julia Korbik, Texte wie diesen nennt man würdevoll, nennt man groß, nennt man staatstragend. Einer großen Frau gerecht zu werden, ist nicht einfach, zumal, wenn der Schmerz über die Zukunft so präsent ist.

    Es ist gespenstisch. Als Bruce Miller begann, Margaret Atwoods Klassiker „The Handmaid’s Tale“ für hulu zu adaptieren, hieß der Präsident Barack Obama und Gilead schien die Fantasie einer kanadischen Autorin zu sein. Als Elisabeth Moss, Alexis Bledel, Samira Wiley, Yvonne Strahovski, Joseph Fiennes und all die anderen großartigen Schauspielerinnen und Schauspieler mit den Dreharbeiten zu Staffel 2 begannen, saß mit Mike Pence schon ein Vizepräsident im Weißen Haus, für den Gilead keine Dystopie ist sondern eine Utopie. So schnell konnte es gehen.

    Und jetzt, wo Staffel 4 gedreht wird, nominiert Trump als Nachfolgerin von RBG eine fanatische Christin. In ihrer katholischen Sekte werden alle Männer als „Führer“ der Familie bezeichnet und die Ehefrauen als … man glaubt es nicht: als Handmaids. Heißt die Kandidatin wirklich Amy oder nicht doch eher Ofjesse?

    In Staffel 2 fleht Junes Mutter ihre Tochter in einer Rückblende regelrecht an: „Dieses Land geht mit Riesenschritten vor die verdammten Hunde. Es ist Zeit, auf die Straßen zu gehen und zu kämpfen und nicht Familie zu spielen.“

    Die meisten Frauen in Deutschland können sich das für hier nicht vorstellen und spielen Familie. Die meisten amerikanischen Frauen konnten es sich 2015 auch nicht vorstellen.

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