Es ist gar nicht so leicht, dieses Gefühl in Worte zu fassen, es hängt nämlich meistens irgendwo in der Magengegend herum, schaukelt dort ein bisschen hin und her, erst gleichmäßig und gefasst, bis es plötzlich überschwappt. Es ist dann so, als würde es meinen gesamten Körper fluten, von oben bis unten, bis es schließlich mit viel Schaum an der Wellenlippe gegen meine Organe knallt. Ich glaube, man nennt es: Enttäuschung.
Ich bin in letzter Zeit ungewohnt häufig enttäuscht. Von der Menschheit, den Zeiten, von Leuten oder mir selbst. Ihr kennt das ja. Man fragt sich irgendwann, ob überhaupt noch jemand mitdenkt. Die Dinge ernst nimmt. Oder ob das eigene Hirn sich irgendwann auch nochmal dazu bequemt, eine gewisse Anstrengung aufzuwenden. Heute war wieder so ein Tag. Und das sage ich, obwohl mir die Uhr gerade einmal 14.27 anzeigt.
Um 15.45 muss ich los, das Kind aus der Schule abholen. Dabei möchte ich gerade nur schlafen. Oder auch: Verschlafen, was da draußen schon wieder los ist. Im Großen, aber auch im Kleinen. Vor drei Tagen schrieb ich: Who are you to judge? Jetzt muss ich mich wiederholen. Kaum etwas denke ich dieser Tage so häufig. Ach was. In diesem Jahr. Als Leandra Medine abdankte etwa. Bei jedem dritten Shit Storm. Stichwort: Cancel Culture. Und nun schon wieder.
Martin Suter und Benjamin von Struckrad-Barre sind mir ehrlich gesagt schnurzpiepegal. Mir ist scheiß egal, ob sie einvernehmliche Orgien feiern oder in die Kirche gehen, ob sie ihr gemeinsames Buch nun verkaufen oder nicht, ob darin nur schwülstige Profanitäten versammelt sind oder intellektualisierte Ergüsse. Nicht egal ist mir, was der Diskurs über „Alle sind so ernst geworden“ da gerade schon wieder über die Herden-Mentalität „unserer Bubble“ aussagt. Seht diese Suter- von Stuckrad-Barre-Geschichte also einfach als stellvertretendes Paradebeispiel für etwas, das mir in letzter Zeit unangenehm aufgefallen ist.
Ich sage es euch gleich: Ich habe dieses Werk selbst nicht gelesen. Ein bisschen drauf gefreut habe ich mich, weil ich von Stuckrad-Barres ehrlichen Umgang mit seiner Sucht und psychischen Erkrankungen, die Stärke seiner Worte, immer geschätzt habe. Sollte am Ende dabei heraus kommen, dass es sich um ein menschenverachtendes Pamphlet handelt, verhandeln wir nochmal neu, versprochen. Aber allein das Ignorieren von gendergerechter Sprache rechtfertigt noch keinen verbalen Fehlgriff als Ersatz zur aufrichtigen Kritik. Wie sollen die beiden Herren denn so auch dazu lernen? Wer gleich angepöbelt wird, hört irgendwann doch gar nicht mehr hin. Übrigens: Die viel gefeierte Essay-Sammlung „Schreibtisch mit Aussicht“, in denen Schrifststellerinnen von ihrem Schreiben erzählen, zieht die Sache mit dem generischen Maskulinum ironischerweise von vorne bis hinten durch. Ich finde das falsch. Aber würde mich deshalb jetzt nicht per se über die Herausgeberin erbrechen wollen. Auch, ob ein Buch rassismuskritisch in meinen Gehirnwindungen nachhallt oder bloß von Bahnfahrten durch die Einöde handelt, ist erstens nicht meine Entscheidung und zweitens kein Kriterium für „gute“ oder „schlechte“ Kunst.
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Was hat sie denn nur, fragt ihr euch jetzt vielleicht. Auf jeden Fall habe ich etliche Nachrichten in meinem Postfach liegen. „Schon Deutschlandfunk Kultur gesehen, diesen Beitrag und Instagram Post über diese beiden Typen und ihr Buch (siehe oben)?“ Nein, also holte ich nach, was ich verpasst hatte und las noch dazu die Kommentarspalte zum Post, die mittlerweile ausgedünnt wurde, weil so viele Bewertungen unter die Gürtellinie gingen. Ich antwortete aus vielerlei Gründen: Oh Backe. Und: Buch schon gelesen? Ehrlich gesagt eine rhetorische Frage. Wer meckert, tut das ja eigentlich auf Basis von Wissen. Dachte ich. Aber: Nein. Nein? Nein. Ich fragte die erste Person, die sich über die Existenz des besagten Werkes aufregte, die zweite und die dritte, auch die siebte noch. Aber schließlich dämmerte mir: „Ich muss das Buch nicht gelesen haben“ würde der einzige Satz sein, der mir dazu noch begegnen würde.
Natürlich nicht, weil: kein Applaus für Scheiße, das sehe ich auch so. Und auch keine Kohle. Aber da ist er wieder, der feine Unterschied zwischen scharfer Kritik, Gleichgültigkeit und inhaltsleerem Gepöbel. Wo verläuft die Grenze? Und wie relevant ist außerdem eine Meinung, die ohne Argumente auskommt? Ich hasse, dass es so ist. Ich hasse, dass weiße Männer mehr Gehör finden als alle anderen Menschen. Aber sowas macht das alles einfach nicht besser. Vielleicht sogar schlechter. Wir kommen so nicht voran. Auch nicht in der Welt der Literatur, die übrigens für manche eine Art Zufluchtsort ist. Ein Safe Space, an dem der eigene Schmerz temporär vergessen werden will. Der heilend sein kann. Ein Moment der Ruhe. Es gibt Menschen, die träumen davon, ein Buch aufzuschlagen und unterhalten zu werden, nichts weiter. Kunst muss nämlich erstmal: Gar nichts. Ob uns das jetzt passt oder nicht.
Ich glaube übrigens auch, wenn ich noch ein einziges Mal „alt und weiß“ als Synonym für „Halt die Fresse“ lese, wenn diese Attribute mir noch ein einziges Mal so selbstgefällig und hingerotzt entgegen lächeln, ganz so, als stünde nichts weiter dahinter, als hätten wir es hier nicht mit einem ernsthaften strukturellen Problem, sondern nur mit einem nervigen Umstand zu tun, dann verliere ich den Respekt vor einer Bewegung, für die doch eigentlich mein Herz brennt. Immer mehr beschleicht mich das Gefühl, als trüge mensch feministische Floskeln vermehrt als eine Art unsichtbaren Kopfschmuck durch die Gegend, zu Zwecken der Selbstbeweihräucherung. Oder eben: Weil es an weiteren Inhalten und echter Auseinandersetzung mangelt.
Noch blöder, wenn man beim privilegierten Gemotze über privilegierte Autoren oder wahlweise „Säcke“ vergisst, dass da am anderen Ende der (Internet-)Leitung eben auch wieder nur Menschen sitzen. Wenn aufgehört wird, zu differenzieren.
Wenn schon allein die Fassade und zwei hohle Sätze von Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter einen solchen Gräuel in euch auslösen, wenn reihenweise Kommentare gelöscht werden müssen, wegen sowas (!) und zwar oft ohne dass ihr euch je ein anderes Interview zu Gemüte geführt oder etwa Panikherz gelesen hättet, dann erwarte ich aber zumindest mehr eindeutigen, zielgerichteten Hass im Kontext von zum Beispiel Nazi-Fressen. An jedem einzelnen Tag, mit all eurer Energie.
Das hier ist, zumindest teilweise, Pipikacka. Da pöbeln Leute voller Energie über das Konzept eines egalen Buches. Die gleichen, die es offenbar schaffen, in gefühlt dreizehn Instagram-Stories hintereinander über „Frauen, die menstruieren“, zu schreiben, ohne die dabei mitschwingende Transfeindlichkeit auch nur im Ansatz zu bemerken. Soll heißen: Die meisten von uns machen Fehler. Wir müssen dazulernen, andauernd. Es geht mir nicht um Whataboutism. Und auch nicht darum, ob das Buch der beiden am Ende wirklich auf den Müll gehört. Sondern um ein komisches, kollektives Draufhauen, das erschreckend selten auf eigenem Wissen basiert. Und darum, dass der allergeringste Anspruch, den wir an uns selbst stellen sollten – wann immer wir bewusst Hass im Internet sähen – nunmal der sein sollte, ein Mindestmaß an Ahnung mitzubringen. Andernfalls gilt doch hoffentlich wie immer: Erst informieren, dann urteilen. Dann hat berechtigte Kritik nämlich nochmal Extra-Bumms.